■ LOOPBACK: Die Glocken des Grauens
Schrecklich, diese Zeit von Anfang Dezember bis zum Jahresendfest. Alle erwarten Weihnachtsgeschenke. Die Familie und die Lebensabschnittsgefährtin. Teuer sollten sie sein oder zumindest so aussehen. Auf jeden Fall originell und mit Bedacht ausgewählt.
Die Feiertage kann man ja ganz genüßlich im Bett verbringen – mit einem edlen Tropfen und einem guten Buch. Schlimm ist eigentlich nur der Einkaufsstreß davor, ganz besonders in den Fußgängerzonen und Kaufhäusern an den langen Samstagen. Überall, aus allen Ecken werde ich mit dem grausamsten Lied der Musikgeschichte berieselt: Jingle Bell, jingle all the way. Heerscharen von Frührentnern und Luftschnappern bahnen sich ihren Weg, ich mittendrin. Als hätten sie das ganze Jahr keine Zeit gehabt. Und ständig vergißt eine Großfamilie aus Niederschweineöde das Schrittemachen vor den Schaufenstern. Das führt zu peinlichen Zusammenstößen.
„Weihnachten wird abgeschafft: Josef hat alles zugegeben!“ Dieser Traum von einer taz-Schlagzeile geistert mir schon seit Jahren im Kopf herum. Er wird wohl nie in Erfüllung gehen, aber im nächsten Jahr mache ich diesen Rummel nicht mehr mit. Ach was, letztes Jahr war das genauso, und das Jahr davor auch.
Online-Shopping im Internet – das ist die Lösung! Schön gemütlich daheim, bei einem Petit Rouge oder zwei. Marinierter Alligatorschwanz aus Louisiana, das wär' doch mal was! Aber das fällt bestimmt unter irgendein Artenschutzabkommen, und als aufgeklärter Bildungsbürger macht man so etwas nicht. Und bis das hier ist, haben wir Ostern. Also weiterklicken, deutsche Shopping-Sites suchen. Karstadt Online, aber das ist ziemlich wirr. Woanders kann ich günstige original Ray-Ban-Sonnenbrillen bestellen. Ist jetzt nicht die Jahreszeit. Ich hab's: Die CD-ROM vom Otto-Versand, Bestellung über T-Online. Das Installationsprogramm rödelt vor sich hin. Die Festplatte ist noch nicht ganz voll, der Surfer schon eher. Spießiger Plunder!
Was nun? Zurück ins Internet. Buch- und CD-Versender gibt's dort massenhaft. Aber das ist wieder nicht originell genug, schließlich haben wir schon ein Buch. Deutsche Versender scheinen nicht besonders phantasievoll zu sein.
Nur aus reiner Neugier klicke ich noch mal nach Amerika, doch schon packt mich das kalte Grauen: Jingle Bell – aus der Soundkarte, übertragen aus Kalifornien. Wenn es fertig ist, fängt es immer wieder von vorn an. Endlosschleife: Rechner aus, zurück in die Fußgängerzone!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen