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Ein Haus in Lichtenberg

Der alte Hausgemeinschaftsleiter ist weggezogen. Neue MieterInnen kommen und gehen. Die alten versuchen, irgendwie miteinander zurechtzukommen  ■ Von Jens Rübsam

Von Herrn Strehlow reden alle. Grützmachers sagen, Herr Strehlow sei ein richtiger Hausgemeinschaftsleiter gewesen. Nett und freundlich. Der habe sich um alles gekümmert. Stingls sagen, Herr Strehlow wisse heute noch genau, wann welcher Mieter Geburtstag habe. Zum Gratulieren komme er stets ins Haus. Herr Heuer kennt Herrn Strehlow schon lange und nennt ihn einfach „unseren Hausvertreter“. Grützmachers sagen noch, daß Herr Strehlow immer ein Hausbuch geführt habe. Jeder, der neu einzog, mußte sich hier eintragen. Auch die BesucherInnen, die länger blieben. Man wußte, wer im Haus war.

Ja, der Herr Strehlow. Vor kurzem ist er siebzig geworden.

Herr Strehlow wohnt nicht mehr in der Paul-Gesche-Straße 10. Genauer gesagt, nicht mehr so richtig. Sein Name klebt zwar noch unterm Klingelschild. Aber das ist nur pro forma. Herr Strehlow ist weggezogen aus Lichtenberg. Raus nach Grünau auf sein Sommergrundstück. Die Eigentumsfrage ist noch strittig. Die Wohnung in der Paul-Gesche 10 hat er sicherheitshalber behalten.

Mit Herrn Strehlow ist ein Stück Zusammenhalt weggezogen. Draußen ist Mitte Dezember. Und es ist kalt. Zwei Menschen machen sich am Spielplatz zu schaffen. Sie kehren emsig, lesen Papierkram auf und sammeln Blätter ein. Die Mieter aus Nummer 10 sagen, daß die Neugestaltung des Spielplatzes viel Geld, 1,4 Millionen Mark, gekostet habe. Ob das nötig sei in der heutigen Zeit? Früher sei es doch auch gegangen. Mit den Geräten aus DDR-Zeiten.

Drinnen ist schon Weihnachten. Bei Grützmachers ist der Baum geputzt. Mit viel Lametta und vielen Engeln. Vorhin, da waren sie gerade einkaufen. Haben tütenweise Schokomänner und Schokokugeln und Lebkuchen nach oben, in die 9., gefahren. Den letzten Treppenabsatz müssen Grützmachers immer laufen. Sie wohnen in der 10. Etage. Der Fahrstuhl endet eine tiefer. „Das hängt wohl mit dem Bau des Blocks zusammen“, vermutet Bruno Grützmacher. Ein richtiges Dach hat die QP, die Querbandplatte, nicht. Sie endet einfach über Grützmachers.

1982 ist Erika Grützmacher in die Paul-Gesche-Straße 10 gezogen. Gleich nachdem der Block bezugsfertig war.

„Irgendwie war damals noch alles anders“, sagt sie und meint die Zeit vor der Wende. Die kleinen Grünanlagen vor und hinter dem Haus haben die MieterInnen selbst gepflegt und dafür einen Obolus bekommen. Heute macht das die Wohnungsbaugesellschaft Lichtenberg selbst – und wird nicht fertig damit. Früher haben die Mieter den Flur gereinigt. Es gab einen richtigen Plan. Jeder war mal dran. Früher konnte man die Tür noch offen lassen. Die Zeiten waren sicherer. Früher ist man auch gemeinsam in den Friedrichstadtpalast gefahren. „Ja, früher“, sinniert Erika Grützmacher nostalgisch, „ist der Zusammenhalt im Haus größer gewesen.“ Heute denke sie manchmal, sie wohne in einem Hotel. Viele, vor allem die jüngeren Leute, kenne sie nicht. Man grüße sich nicht mehr. „Wie in einem Hotel eben.“ Nur, daß die Paul-Gesche 10 so gar nicht nobel ist. Das Treppenhaus müßte renoviert werden. Der Schlüssel für den Notausgang ist schon lange unauffindbar. „Wenn da mal was passiert!“ Erika Grützmacher will sich mal erkundigen. Wo? „Den neuen Hausmeister habe ich, ehrlich gesagt, noch nie gesehen.“ Bis zum Jahr 2000, hat Edith Stingl aus dem 4. Stock gehört, soll auch dieser Block saniert sein.

Stingls haben schon überlegt, ob sie wegziehen sollen. Ein Häuschen im Grünen? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. „Es gibt da so ein gewisses Beharrungsvermögen“, sagt Helmut Stingl. Und hohe Preise. Und immer wieder neue Überlegungen. Die Paul-Gesche 10 liege ja relativ zentral, nahe an der U-Bahn. Und so schlecht seien die Würfel nun auch nicht. Stingls müssen es wissen. Sie war Architektin, er war Architekt.

Sie hat zweimal den Architekturpreis der Hauptstadt der DDR bekommen – für die Planung der Wohngebiete am Tierpark und an der Salvador-Allende-Straße. Einmal sogar den Architekturpreis der Republik – für das Wohngebiet Marzahn I. 8.665 Wohneinheiten für 25.480 EinwohnerInnen hat sie rund um die Marzahner Promenade mitgeplant. Dazu die soziale Infrastruktur. Neun Kinderkombinationen unter anderem, drei polytechnische Oberschulen, Turnhallen, Schulspeisungen, Feierabendheime und Dienstleistungsgebäude. Edith Stingl weiß, was soziale Struktur in Neubaugebieten heißt. Auch sie wohnt nunmehr 14 Jahre in einem Block in der Paul- Gesche-Straße 10.

Die staatlich gewünschten Vorgaben haben auch dieses Haus erreicht. Gewährleistung der sozialen Mischung hieß eine. Wenn möglich sollte der Akademiker neben dem Arbeiter, darunter die Lehrerin und darüber Verkäuferin wohnen. Später, in den achtziger Jahren, wurde den MieterInnen die Möglichkeit eingeräumt, einen Kellerraum zum Klubraum umzugestalten. Gefeiert wurde hier und bei Hausversammlungen Dampf abgelassen. In der Paul-Gesche 5 gab es so einen, in Nummer 10 nicht. Heute würde ihn auch keiner mehr brauchen. „Die Hausgemeinschaft ist am Auseinanderbrechen“, sagt Edith Stingl. Nur die älteren MieterInnen hätten noch Kontakte untereinander, die anderen kenne man lediglich von den Klingelschildern. Und auch die würden ständig wechseln. Erhard Heuer kennt die neuen Nachbarn vom Auto her. Wenn er rausschaut aus seinem Fenster, die immergleichen Pkws vorfahren sieht und die Leute in die 10 gehen, dann weiß er, die müssen hier wohnen. Aber sonst? Viele kommen, viele gehen. Und der neue Hausmeister, der jetzt für viele Würfel zuständig ist, kommt immer seltener. „Ja, der Herr Strehlow war ein guter Hausgemeinschaftsleiter“, sagt Erhard Heuer.

Helmut Stingl ist gestern rausgefahren nach Grünau. Dem alten Herrn Strehlow nachträglich gratulieren. Strehlow feierte seinen 70. Geburtstag.

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