■ Normalzeit: Richtig reinziehende Lied-Sätze
Die taz wird zunehmend Grunerundjahrisiert. Wenn man von einem Redakteur etwas will, wird man immer öfter mit dem Satz abgewimmelt: „Ich hab' keine Zeit, ich sitze gerade am Lead-Satz.“ Diesen eigentlich den Kammerton angebenden ersten Lied-Satz, von dem alle Doof-Schriftsteller meinen, er sei der wichtigste – ohne ihn jedoch mit diesem albern-leichten US-Journalistenwort zusätzlich zu beschweren –, sollte man sich näher anschauen, in einer Samstags-taz etwa:
„Selbst der Bundespräsident hat sich des einstigen Schmuddelthemas angenommen. / Die Schloß-und Riegel-Fraktion hat sich durchgesetzt. / Vor ziemlich genau zwanzig Jahren erhält Erich Honecker einen Brief aus der Schweiz. / Drohend wie eine Gewitterwolke an einem schwülen Sommertag lasten die fettgedruckten Worte auf der ersten Seite eines Boulevardblattes: ,Bonn, gestern 9.20 Uhr‘. / Schneewehen haben die Straße nach Han Pijesak fast unpassierbar gemacht. / Die Bundesregierung betreibt bei der Europäischen Währungsunion ein seltsames Spiel. / Das Machtkalkül von Präsident Liamine Zeroual ist einmal mehr aufgegangen. / ,Chef, ich brauch mehr Geld‘. / Die Versicherungswirtschaft betreibt zur Zeit eine Offensive zur Imageverbesserung. / Schwer zu erraten, was dem Kapitän durch den Kopf geht, wenn er Ruderwache hat und vier Stunden lang fast unentwegt in diese dunkle Unendlichkeit schaut.“
Und weiter: „Um es gleich vorweg zu sagen, Richard Swartz bringt unsere Zeitkoordination ins Schwanken. / Eigentlich, so mag es dem oberflächlichen Betrachter scheinen, geht in der Stadt am Niederrhein alles seinen gewohnten Gang. / ,Dieser Schlägerin möchte ich nicht begegnen.‘ / Die politische Landschaft ist nicht mehr dieselbe. / Hat es ihn schon erwischt? / Manchmal ist das Leben voller Überraschung. / ,Falls man auch nur das kleinste Verlangen verspürt, den Gegenstand zu erwerben, dann sollte man ihn lieber gleich kaufen.‘ / Sie ist nicht größer als die Volksbank einer deutschen Kleinstadt. / Die Glocken am Hals der Hammel verstummten. / Gestern wurde er vereidigt, der neue Staatspräsident Rumäniens. / Selbst jetzt noch!“
Weiter: „Die Bündnisgrünen stellen die PDS-Frage. / Der so gern als ,offenes Haus‘ propagierte Preußische Landtag erlebte am Donnerstag eine heikle Bewährungsprobe. / Die PDS macht, was sie will ... / Das System ist so einfach wie überzeugend ... / Was ist das denn nun? / Emma von Hohenbüssow ist von uns gegangen. / Man kann in der Beletage nicht das Wahre, Schöne, Gute feiern, während im Keller den Mitmenschen die Haut abgezogen wird. / Gerda Plate und Inge Schaßberger haben sich selbständig gemacht. / Vor sechs Jahren lernten sie sich kennen. / ,Die Aids-Beratungsstelle Kreuzberg droht auseinanderzubrechen.‘ / Manchmal geschehen auch in Berlin Zeichen und Wunder. / Jetzt aber Beeilung!“ Wenn ich Noten zu vergeben hätte – was taz-intern „Blattkritik“ genannt und immer wieder gerne mit „Promi-Schriftstellern“ werthaltig gemacht wird – würde ich dem taz-Regierungskorrespondenten Markus Franz für den Lied-Satz „Drohend wie eine Gewitterwolke ...“ mindestens eine Zwei plus geben.
Es geht mir hier jedoch um etwas ganz anderes: Die Dinge haben sich – auch drohend wie eine Gewitterwolke – genau umgedreht! D. h. früher haben wir uns in der taz noch primär um den „Abbremser“ besorgt: Wie kommt man zum Schluß – möglichst mit einer kleinen gemeinen Abrundung?
Die Zeiten sind vorbei. Jetzt gehe ich oft am Sonntag durch die Redaktionsräume und frage lauernd: „Wer hat meinen Lied-Satz so zerstört – in der letzten Kolumne?“ Mit Glück bekomme ich eine Antwort wie diese: „Der hatte 17 Zeilen!“ – und damit soll dann schon alles gesagt sein. Dafür ist sonntags der beste taz-Tag: Es gibt jede Menge freie Arbeitsplätze, das Archivpersonal wirkt ausgeruht, irgendwo kreist immer ein Joint, dabei wird leise über den Wahrheitsbegriff diskutiert. Früher habe ich nie gewußt, was ich an diesen elend langen und grauen Berliner Sonntagen anfangen soll. Helmut Höge
wird fortgesetzt
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