■ Das Schenken: Ein kleinformatiges Sittenbild: Zahnstocherspender mit Spieluhr
Wenn man den Menschen in den letzten Wochen vor Weihnachten betrachtet, dann liegt der Gedanke nicht fern, daß das Schenken von Zeus und seinen olympischen Gottgenossen erfunden wurde, als sie mal wieder besonders miesepetrig waren. Genauso wie das Tagwerk der Herren Sisyphos und Tantalos führt die Suche nach Geschenken zu einer schwerwiegenden Zerrüttung des psychohygienischen Gleichgewichts. Spätestens heute hat die Mehrzahl unserer Mitkreaturen eine Reihe von Symptomen herausgebildet, die von nervösen motorischen Störungen und Schlaflosigkeit bis hin zu permanentem Schluckauf reicht. Sie flehen alle Götter der großen Weltreligion um eine Eingebung an, wieseln so aufgebracht durch die Gemeinde, als seien sie an einer lebensbedrohlichen Variante des Speedy-Gonzales-Syndroms erkrankt, und wenn man sie danach befragen würde, was sie vom allgemeinen Geschenkeaustausch halten, dann käme wohl eine Charakterisierung heraus, die auch zur Beschreibung einer Wurzelbehandlung beim Zahnarzt dienlich sein könnte.
Am meisten Kopfzerbrechen bereitet ihnen für gewöhnlich die Auswahl eines passenden Geschenkes für die Erbtante Alma, da diese infolge ihres langen Lebens anscheinend schon alles besitzt. Auch pflegt sie gerne zu sagen, daß man ihr doch wirklich nichts zu schenken bräuchte, weshalb wohl jeder ihrer Erben in spe bereits darüber nachgedacht haben dürfte, sie endlich einmal beim Wort zu nehmen. Andererseits könnte die alte Damen sich dadurch zu einem kurzen Besuch bei ihrem Notar zwecks Testamentsänderung veranlaßt sehen, und so irrt der Alma-Neffe denn doch wieder so lange durch die Einkaufsstraßen, bis er einer verständnisvoll nickenden Verkäuferin in die Falle geht, die ihn mit einem versilberten Grapefruitlöffel Erlösung verschafft.
Von einem vergleichbaren Kaliber sind die Probleme, die das Beschenken der Liebsten mit sich bringt. Zwar gibt es von ihr nichts zu erben, doch mit dem Kaffeeservice „Alpenglühen“ oder einem anderen Beweis totaler Einfallslosigkeit könnte man durchaus eine Reaktion Marke „Du liebst mich nicht mehr!“ provozieren.
So wühlt man denn auf der Suche nach der rettenden Idee in alten Erinnerungen, hört endlich mal zu, wenn sie von ihren Wünschen und Sehnsüchten erzählt, und lenkt den Sonntagsspaziergang wie zufällig an Schaufensterfluchten vorbei. Auf diese Weise landet man letzten Endes tatsächlich bei einem Duftwasser, das den gegenwärtigen Fluchtpunkt ihres Begehrens darstellt. Die Folge ist ein Stimmungshoch, das in der Regel jedoch nur so lange anhält, bis sie einem einen Tag vor Heiligabend den Hals entgegenstreckt. „Riech mal. Hab ich mir selbst zu Weihnachten geschenkt“, sagt sie und versteht ganz und gar nicht, warum man von einem Weinkrampf heimgesucht wird.
Doch was ist noch beglückender als das Schenken? Ganz recht: beschenkt zu werden. Längst stehen in jedem Haushalt mindestens ein halbes Dutzend Zahnstocherspender mit integrierter Spieluhr und Eierbecher, die „gack, gack“ machen, herum. Man braucht nur durch die sogenannten „Geschenkboutiquen“ zu streifen, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie der Gabentisch aussehen wird. Zugleich kann man dabei schon mal ein glückliches Gesicht trainieren. Denn auch die Tante Alma wird ihre Geschenke wieder in einem dieser Krimskramsläden einkaufen und einen bei der Bescherung mit einem kurzen Bericht von ihrem letzten Notarstermin daran erinnern, daß sie beim Auspacken einen Freudentaumel erwartet. Joachim Schulz
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