: „Die da oben wollen doch nur scheen sein“
Heute wird die deutsch-tschechische Erklärung paraphiert: Drei Prager Juden über ihre gemischten Gefühle ■ Von Constanze v. Bullion
Er hat schon bessere Tage gesehen. Aber auch üblere. Die Ohren hängen schlapp über den schwarzen Augen. Die Beine sind eingeknickt. Nur das kesse Dackelgesicht, das hat der Zahn der Zeit noch nicht weggenagt. „Der hat mir das Leben gerettet“, sagt Michaela Vidláková, „vielleicht hätt' ich ihn mal missen reparieren.“ Vorsichtig stellt die grauhaarige Dame den Holzhund zurück aufs Regal. Ins Konzentrationslager hat Pluto die Tschechin begleitet. Und wieder hinaus.
Sie hat ihn nicht weggeworfen nach dem Krieg. Als sie sich um Versöhnung mühte: mit ihrer eigenen Geschichte und mit den Deutschen. Und jetzt liegt Pluto immer noch da. Im Wohnzimmer der 59jährigen wird diskutiert: über die deutsch-tschechische Erklärung, die heute in Prag paraphiert wird.
Mit der feierlichen Unterzeichnung kommt auf dem Hradschin, der böhmischen Königsburg über der Moldau, ein überfälliges Spektakel zur Aufführung. Denn das Abkommen zwischen Tschechen und Deutschen ist das Schlußlicht der Ostverträge. In ihnen bekannte sich die Bundesregierung Anfang der 70er zu ihrer historischen Verantwortung: für den deutschen Überfall auf die Völker Osteuropas im Zweiten Weltkrieg. Das Foto von Willy Brandt, der vor dem Denkmal des Warschauer Ghettos kniete, ging um die Welt. Doch die Nation, die als erste von Hitlers Truppen überrannt wurde, erreichte seine Versöhnungsgeste nicht: die Tschechoslowakei.
Das Gezerre um das Münchener Abkommen von 1938 und die nimmermüden Parolen der Sudetendeutschen haben dafür gesorgt, daß der Vertrag für die meisten tschechischen Nazi-Opfer zu spät kommt. Von den etwa 200.000 Juden, die vor dem Krieg in der Tschechoslowakei lebten, waren nach 1945 noch 15 Prozent übrig. Heute sind die jüdischen Gemeinden der Tschechischen Republik auf rund 3.000 Mitglieder geschrumpft. Von der deutschen Regierung haben sie keinen Pfennig bekommen. Und eine individuelle Entschädigung sollen sie – anders als Polen und Russen – auch in Zukunft nicht sehen. Das verprellt auch die, die sich jahrzehntelang für Verständigung stark machen.
„Entweder ein gerechter Vertrag oder gar kein Vertrag.“ Für Michaela Vidláková ist die Sache klar. „Das mecht ich grade nicht sagen“, widerspricht Artur Radvansky, „einmal muß man doch den Schritt machen.“ Jiři Steiner will nicht vorschnell urteilen. „Vertrag ja, aber nicht dieser“, sagt er. Die drei Mitglieder der jüdischen Gemeinde sitzen in Vidlákovás Wohnung in der Nähe des Wenzelsplatzes zusammen. Zwischen einem Sekretär voller Bücher und dem siebenarmigen Leuchter auf dem Fernseher reicht Michaela Vidláková Buchteln mit Pflaumenmus. Doch Hunger hat niemand. Artur Radvansky erzählt.
„Ich war ein alter Lagerhase“, sagt der Herr, dessen lebhafte blaue Augen vergessen lassen, daß er vor 75 Jahren geboren wurde: als Artur Tüberger, Sohn gläubiger jüdischer Lederhändler aus Radvanice, einem Dorf bei Mährisch- Ostrau. „Eisenherz der Tschechoslowakei“ nannte man die Stahl- und Kohleregion, die posthum „Sudetenland“ getauft wurde. Als am 15. März 1938 deutsche Truppen die „Rest-Tschechei“ annektierten, kam der 17jährige gerade vom Skifahren. „Da war's mit dem Gymnasium aus.“
Artur Tüberger, der heute Radvansky heißt, schmuggelte Flüchtlinge über die Grenze nach Polen. „Wir haben die zu einer Kohlegrube geführt, ihnen Kleider gegeben und sie mit den Bergleuten in die Tiefe geschickt. Unten sind sie durchgelaufen nach Polen. Damals gab es eine große Solidarität.“ Geschnappt wurde Radvansky im August 1939. Polnische Grenzer hatten den Trick mit dem Bergwerk „aus zwei Flüchtlingen rausgeprügelt“. Er landete in Gestapohaft. Wurde von einem Freund laufengelassen. Und tauchte mit seinem Vater nach Polen ab. Zu spät. „Hinter uns standen die deutschen Tanks, gegenüber die ponische Artillerie mit Pferden. Und wir dazwischen im Kartoffelfeld.“
„Da wird verglichen, was nicht vergleichbar ist“
Was dann kam, war eine Odyssee durch Konzentrationslager. In Buchenwald schuftete er im Steinbruch, hier starb sein Vater an der Ruhr. In Ravensbrück mußte er beschlagnahmte Pelze, Beutegut der Wehrmacht, mit Blaugas „entseuchen“. In Sachsenhausen war er beim „Schuhkommando“, testete Sohlen für eine deutsche Lederfabrik: „Die Leute sind im Kreis gelaufen, bis sie umgefallen, zerbrochen, gestorben sind.“ Mit einem Kanten Brot setzte man ihn 1942 in den Zug. Ziel: Auschwitz. „140231, 70315“, wie Telefonnummern kann er noch heute seine Stammziffern auswendig. Die aus Auschwitz steht in großen, blauen Zahlen auf dem Unterarm.
Warum er noch lebt? Weil er bei drei Selektionen als arbeitstauglicher, als profitabler Häftling eingestuft wurde. Und weil er gelogen hat. Artur Radvansky gab an, Medizinstudent zu sein, und landete in der SS-Krankenbaracke. „Da mußte ich Wachmännern bei Verstopfung Einläufe machen oder dem Mengele den Rücken schrubben.“ Noch kurz vor Kriegsende beschaffte er sich falsche Papiere, heißt seither „Radvansky“. Und als US-Truppen ihn aus dem KZ Mauthausen befreiten, nach sechs Jahren Haft, erschrak er, bevor er sich freuen konnte: „Wo soll ich denn hin?“
Die Heimkehrer mußten erfahren, was es bedeutete, daß die Nazis im „Protektorat Böhmen und Mähren“ das jüdische Leben so gut wie ausgelöscht hatten, was es bedeutete übrigzubleiben. Jiři Steiner, der heute ein weißhaariger Herr mit einem weichen Gesichtsausdruck ist, hat Jahre gebraucht, um auf die Beine zu kommen. Zwillingsversuche hatte man in Auschwitz an ihm und seinem Bruder unternommen. Die Familie fand er 1945 nicht mehr. Mit 15 Jahren wog er 26 Kilo, war 126 Zentimeter groß. „Ich bin lange nicht gewachsen, konnte mich nicht mehr konzentrieren. Noch heute fange ich nachts an, hemmungslos zu essen. Das ist die Angst vor dem Hunger.“
Michaela Vidláková war neun, als sie aus dem KZ Theresienstadt nach Prag zurückkehrte. Die Wohnung hatten die Deutschen geplündert, doch darüber dachte sie nicht nach. Eher darüber, daß sie nicht zu den etwa 125.000 Menschen gehörte, die in den tschechoslowakischen Durchgangslagern umgekommen oder von hier ins Gas geschickt worden waren. Das verdankte sie ihrem Vater. Und Pluto, dem Holzhund. Den hatte sie im Rucksack, als sie im Lager ankam. Und weil hier ökonomisches Kalkül über Leben oder Sterben entschied, „durfte“ sie bleiben. Denn der gescheckte Holzhund ging in Serie: Ihr Vater, gelernter Kürschner, stellte in Theresienstadt Holzspielsachen für deutsche Kinder her. Und verpaßte so den letzten Transport nach Osten.
„Opa Lauscher“, so nannten die Freunde Michaela Vidlákovás Vater. „Er war einer der ersten tschechischen Juden, die sich nach dem Krieg um Versöhnung mit den Deutschen bemüht haben. Zusammen mit meiner Mutter, einer leidenschaftlichen Lehrerin. Sie sind in die DDR gefahren, haben über Antisemitismus gesprochen.“ Wenn Michaela Vidláková erzählt von den ersten Jahren „danach“, dann legt sich ihr kluges Gesicht in feine Falten. Und es ist kein Wackeln in der Stimme, wenn sie zugibt, daß sie es den Eltern „ein bißchen übelgenommen“ hat, daß sie „mit denen“ sprachen. „Ich war eine Heranwachsende. Und mein Haß ist mit mir gewachsen.“
Keine Seltenheit damals. Etwa 16.000 Sudetendeutsche, so schätzt die deutsch-tschechische Historikerkommission, kamen bis 1946 bei der Flucht vor aufgebrachten Tschechen und Slowaken ums Leben. Doch die besiegten Besatzer wurden keineswegs von rachelüsternen KZ-Überlebenden durch die Straßen gehetzt, weiß Artur Radvansky: „Das waren Leute, die im Krieg für 100 Zigaretten und einen halben Liter Rum für Deutsche in den Rüstungsfabriken gearbeitet haben. Die wollten ihr schlechtes Gewissen überspielen.“
Von solchen Menschen habe man sich schon damals distanziert, bestätigt Michaela Vidláková. Aber daß sich die tschechische Regierung jetzt offiziell entschuldigen soll, daß in der Erklärung von „Exzessen“ gegen Sudetendeutsche die Rede ist, will ihr nicht in den Kopf. „Da werden Dinge verglichen, die nicht vergleichbar sind“, meint sie. „Für die Verbrechen der Deutschen war deren Regierung verantwortlich. Bei den Tschechen waren das Übergriffe einzelner.“ Warum kein Wort über Lidice fällt, fragt sie. Das Dorf, das nach dem erfolgreichen Attentat zweier Tschechen auf Reinhard Heydrich 1942 dem Erdboden gleichgemacht wurde, steht für die Tschechen wie kein zweites für die NS- Barbarei. Der Vertrag – ein Schlußstrich?
Michaela Vidláková bleibt skeptisch. Und kann es sich erlauben. Sie hat viel gelernt. Hat feststellen müssen, daß die jungen DDR-Bürger, die ihre Eltern einluden, „ganz nett“ waren. „Ich habe langsam zu verstehen begonnen, daß man vorbeugen muß, bei der Jugend.“ Der Durchbruch bei ihr selbst kam mit der Niederschlagung des Prager Frühlings. Als sie sah, „daß man nicht warten darf, bis es zur Totalität kommt“. Anfang der 70er stieg sie bei den evangelischen Friedensinitiativen von „Aktion Sühnezeichen“ ein. „Als meine Eltern starben, habe ich ihre Arbeit geerbt.“
„Es geht nicht ums Geld, es geht um Gerechtigkeit“
Heute ist die promovierte Biochemikerin im Vorstand der jüdischen Gemeinde in Prag. Sie leitet das Sozialkomitee, führt Gäste durch die Stadt, kümmert sich um deutsche Zivis, die alte Prager Juden betreuen. Oder sie fährt nach Deutschland. Ohne den Holzhund Pluto. Aber mit Freund Artur.
Der ist pensionierter Chemiker und Mitglied im Internationalen Auschwitz-Komitee. Radvansky lebt von umgerechnet 300 Mark im Monat, fährt immer noch mit einem alten Skoda zu seinen Enkeln und sagt: „Ich bin ein reicher Mensch.“ Trotz seiner drei Bypass- Operationen stellt er sich regelmäßig vor deutsche Schulklassen, erzählt und läßt sich Fragen stellen. „Weil es immer wieder passieren kann. Überall.“ Und weil er unterscheidet: zwischen den Deutschen, die seiner Mutter Geld gaben – und denen, die sie abholten. Oder zwischen sudetendeutschen Scharfmachern und ihren moderateren Kindern. Nur eins versteht er nicht. „Daß ich ein schlechterer Mensch sein soll als andere.“
„Russische und polnische KZ- Häftlinge bekommen Entschädigung von den Deutschen, wir nicht“, bestätigt Jiři Steiner vom „Verband der Kämpfer für die Freiheit“. Die Verbitterung ist verständlich. Bisher bekamen Tschechiens Juden nur von der eigenen Regierung Geld. Doch wenn die Bundesrepublik jetzt 140 Millionen bezahlt, fließen die in einen „Zukunftsfonds“. Um individuelle Entschädigungen drückt man sich weiter. „Es geht nicht ums Geld, es geht um Gerechtigkeit“, sagt Michaela Vidláková. Auch Artur Radvansky, der Versöhner, fühlt sich verraten. „Ich habe keinen Haß im Herzen. Aber die Herrschaften da oben wollen doch nur scheen sein, Geschäfte machen und in die Geschichte eingehen.“ Er fährt im Januar wieder nach Berlin. Um im Gespräch zu bleiben.
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