: Die Zeitmaschine Rußland
Über die Schwierigkeiten Rußlands, nach dem Ende des Kommunismus in die Gegenwart zurückzukehren. Die übrige Welt war kein Teil der Erfahrung. Über postsozialistische Ungleichzeitigkeiten. Eine philosophische Zeitreise ■ Von Boris Groys
Wenn wir über Grenzen der Nationen sprechen, meinen wir meistens geographische Grenzen. Es gibt aber nicht nur Grenzen im Raum, sondern auch Grenzen in der Zeit. Nur derjenige, der zur gleichen Zeit mit den anderen existiert, kann mit diesen anderen eine gemeinsame Grenze im Raum bilden. Das Wort von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ ist seit langem bekannt. Unterschiedliche Geschichten, unterschiedliche Zeiten müssen synchronisiert werden, damit ihre Träger verortet werden können.
Nun gelingt diese Operation der Synchronisierung aber immer nur dann, wenn die Gegenwart nicht in Frage steht. Man geht dabei selbstverständlich davon aus, daß alle, die heute da sind, ausschließlich aus der Vergangenheit gekommen sind. Wenn bestimmte Teile der heutigen Menschheit immer noch in ihren Erinnerungen und damit in ihrer jeweiligen Vergangenheit leben, dann gehören sie trotzdem in die Gegenwart, weil die Gegenwart mittels der historischen Reflexion ihre Vergangenheit in sich einschließen kann. So werden die heutigen geographischen Grenzen auch als historisch gewordene Trennungslinien begriffen. Und so ist es nicht besonders schlimm, wenn man in der Vergangenheit ein wenig steckengeblieben ist und sich immer noch unterwegs zur Gegenwart befindet. Viel schlimmer ist es, wenn man aus der Zukunft kommt.
Diese Situation ist uns aus vielen Erzählungen und Filmen vertraut, in denen es um eine Zeitmaschine geht. Jemand kommt aus der Zukunft. Aber für diejenigen, die ihn in ihrer Gegenwart empfangen, scheint der Eindringling aus der Vergangenheit gekommen zu sein. So stellt sich die Frage: „Wo warst du früher?“ Die einzig richtige Antwort: „Früher war ich in der Zukunft“, ist offensichtlich paradox und somit unglaubwürdig. Ein solcher aus der Zukunft gekommener Mensch kann sich mit den Bewohnern der Gegenwart deswegen nicht synchronisieren – und damit auch keine gemeinsame räumliche Grenze mit ihnen finden. Der Mensch aus der Zukunft gehört, wie gesagt, für die Gegenwärtigen in die Vergangenheit: Er ist derjenige, der die Gegenwart noch nicht erreicht hat. Er muß noch lernen, wie der „Mensch von heute“ sich kleiden, wie er essen, sprechen, trinken, fahren, scherzen, welche Autoren er zitieren, welche Ansichten er vertreten muß. So ist der Mensch aus der Zukunft wie ein ungebildetes Kind, dem noch alles beigebracht werden muß – und er verkehrt auch oft mit Kindern und Ungebildeten (wie in „E.T.“ oder im „Neuen Testament“). Der Mensch aus der Zukunft läßt sich aber gern als Kind behandeln, denn für ihn gehören alle Gegenwärtigen zur Vergangenheit, das heißt, sie sehen ihrerseits wie Kinder aus. So kann der Mensch aus der Zukunft sich auch nicht durch die Grenzen definieren, die in der Gegenwart gelten, denn in der Zukunft, aus der er kommt, waren alle heutigen Grenzen immer schon überwunden, aufgehoben, ausgelöscht – und andere Grenzen gezogen, von denen die Heutigen noch nichts wissen. So erfährt der Mensch aus der Zukunft alle heutigen Grenzen als Einengung, als Fragmentierung seiner selbst: Sie bringen ihn mit denjenigen zusammen, von denen er in seiner Zukunft schon getrennt war, und trennen ihn von denjenigen, mit denen er sich durch eine gemeinsame Zukunft verbunden fühlt. So fühlt sich der Mensch aus der Zukunft nirgendwo inmitten der gegenwärtigen Grenzen zu Hause und will in seine Zukunft zurück.
Während unser Reisender seine Zeitmaschine repariert und zum Start vorbereitet, hat sich seine Zukunft verändert. Der Mensch aus der Zukunft wird zum Zeitwanderer, zum Migranten durch die Zeitgrenzen. Er versucht immer wieder, sich in andere Zeiten zu versetzen, aber findet sich nirgendwo zurecht und zieht ständig in eine vergangene oder künftige Zeit weiter. Dabei spielen für ihn räumliche Grenzen keine große Rolle. Bei seinen Zeitwanderungen überquert er zwar räumliche Grenzen, was als Gewaltakt mißverstanden werden kann. Aber die Zeitwanderer interessiert sich nicht für die Räume. Er flüchtet sich nur in eine andere Zeit.
So wie ein solcher Mensch aus der Zukunft fühlt sich heute Rußland. Rußland hatte ja bereits die Trennungen und Oppositionen des modernen Kapitalismus hinter sich gelassen. Fast siebzig Jahre lang hat das Land in der Zukunft gelebt, in der beispielsweise nationale Grenzen nicht mehr gegolten haben. Die Trennungslinie zwischen sozialistischen, progressiven Kräften und den reaktionären Kräften ging durch alle Nationen hindurch. Aber auch diese Trennungslinie war für den sowjetischen Menschen obsolet, denn in der Sowjetunion gab es nichts Reaktionäres mehr. Es gab auch keinen Markt, keine privaten Vermögen, keine Geldspekulationen, kein Versicherungswesen, kein kompliziertes Steuersystem und keine zwingende ökonomische Logik mehr. Alles das blieb im neunzehnten Jahrhundert, das heißt in einer tiefen Vergangenheit, zurück, über die man nur aus Büchern etwas erfahren konnte. Die übrige Welt lebte zwar zum Teil immer noch in dieser Vergangenheit. Aber die übrige Welt war kein Teil der unmittelbaren Erfahrung. Der Grund dafür war weniger das Reiseverbot als die unüberwindliche Zeitdistanz. Aus dem Westen kam sicherlich viel Schönes und Verführerisches. Aber jede Vergangenheit scheint ästhetisch reizvoll zu sein – gerade weil man weiß, daß man nie dorthin gelangen wird.
Aber jetzt ist Rußland unerwarteterweise zurück in die kapitalistische Vergangenheit transportiert worden. Man fühlt sich wieder im neunzehnten Jahrhundert, das heißt in der Zeit, bevor Rußland in die kommunistische Zukunft katapultiert wurde. Man spricht wieder über die Ökonomie, das Geld, die wirtschaftliche Entwicklung, über das nationale Interesse und die nationalen Grenzen – und langweilt sich dabei zu Tode, als ob man zum zweiten Mal einen bestimmten Film sehen oder ein bestimmtes Buch lesen würde. Das hat man doch alles schon in der Schule irgendwann in der siebten Klasse gelernt, in der Hoffnung, sich nie mehr damit beschäftigen zu müssen. Kein Mensch, der einmal in der Universalität der kommunistischen Zukunft gelebt hat, in der alle nationalen Grenzen aufgehoben waren, kann innerlich dazu bereit sein, in irgendwelchen nationalen Grenzen zu leben, seien diese Grenzen auch noch so weit. Entweder gehört einem die ganze Welt, oder man will auf dieser Erde gar nichts mehr.
So haben sich die Russen erstaunlich leicht damit abgefunden, daß fast 30 Millionen von ihnen jetzt außerhalb der Grenzen Rußlands leben und daß die riesigen Territorien mit den mühsam aufgebauten Infrastrukturen, inklusive des Kosmodroms Baikonur (jetzt in Kasachstan), verlorengegangen sind. Wenn man im neunzehnten Jahrhundert lebt, braucht man keine Raketen oder Atomkraftwerke. Um so mehr braucht man aber wieder die Gebiete, um die man im neunzehnten Jahrhundert gekämpft hat. Damals führte Rußland Kriege im Kaukasus, dann Kriege gegen die Türkei für die Befreiung der orthodoxen Christen auf dem Balkan, dann Krieg gegen Japan wegen der Kurilen. Und heute tut man wieder das gleiche – führt Kriege im Kaukasus, entrüstet sich über das Schicksal der Serben und nimmt von Japan keine ökonomische Hilfe an, um den Status der Kurilen nicht zu gefährden. Und man liebt Deutschland mit einer völlig ungetrübten Liebe: Die Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts haben noch nicht stattgefunden.
Rußland will sich normalisieren. Das hat auch Deutschland schon einmal getan, nachdem es aus der nationalsozialistischen Zukunft zurückgekehrt war – und tut es immer noch. Der Mensch aus der Zukunft normalisiert sich langsam, indem er sich daran erinnert, wie er früher ausgesehen hat, und erfährt, wie die anderen aussehen, die in der Vergangenheit steckengeblieben sind, um sich die gleiche Maske anzufertigen und aufzusetzen. Wenn der Mensch aus der Zukunft sich im heutigen Deutschland wiederfindet, liest er Thomas Mann, Adorno und Benjamin. Dann rebelliert er dagegen – und liest Heidegger, Carl Schmitt oder Ernst Jünger. Vieles andere steht ihm auf seinem langen Weg zur Normalisierung aber noch bevor. Vielleicht Klages. Vielleicht Goebbels. Vielleicht auch wieder Benjamin. Jahrzehnte vergehen. Woanders schreibt man etwas anderes und strebt nach dem Neuen. Der Mensch aus der Zukunft aber bleibt gelassen. Er war schon in der Zukunft – und hat deswegen keine Eile. Vielmehr betrachtet er die anderen, die nach dem Neuen streben, wie Kinder, die noch in der Zeit vor 1933 leben, das heißt vor dem Jahr, in dem die Zukunft angefangen hat. Und diese anderen werden die Zukunft trotz aller Bemühungen nie erreichen, denn die Zukunft ist passé – sonst hätte man aus der Zukunft ja nicht zurückkehren können. Also verweilt man vor der Zukunft, normalisiert sich weiter, liest wieder einmal Adorno und Goebbels.
Für die Russen beginnt die Zukunft noch etwas früher, im Jahre 1917. Oder sogar im Jahre 1914, denn der Übergang vom Krieg in die Revolution war fließend. Deswegen fühlt man in Rußland, daß alles, was in der übrigen Welt bis jetzt gedacht und gemacht worden ist, in einem gewissen Sinn noch vor 1917 stattgefunden hat. Was danach in der Zukunft passiert ist, wissen nur die Russen. Aber diese schweigen darüber, denn es ist sinnlos, den Gegenwärtigen von der Zukunft zu erzählen. Also spricht man über die Gegenwart, das heißt über das neunzehnte Jahrhundert, um sich den anderen verständlich zu machen: über die Serben, die Banken, den Parlamentarismus, den Panslawismus. Insgeheim denkt man aber darüber nach, wie man aus dieser verfluchten Gegenwart wieder verschwinden kann, wie man eine neue Zeitmaschine erfinden kann, die das ganze Land irgendwo anders hin transportiert.
So werben die politischen Parteien in Rußland nicht für verschiedene Programme, sondern für verschiedene Zeiten. In welcher Zeit soll man am besten leben? Das ist die einzige russische politische Frage. Vielleicht in dem noch älteren Byzanz? Vielleicht wieder in der kommunistischen Zukunft? Vielleicht im achtzehnten Jahrhundert – und wieder die Krim erobern? Vielleicht im Moskauer Rus – und Sibirien aufgeben? Und nicht nur Politiker, sondern auch viele einfache Bürger erwarten, daß sich die Zeitmaschine Rußland wieder in eine andere Zeit versetzt. So versucht man, sich heute noch möglichst viel anzueignen und zu verschwenden, weil bald eine andere Zeit kommt. Dieses Verhalten wird oft als Kriminalität verkannt, obwohl es sich eigentlich nur um ein anderes Zeitgefühl handelt.
Ist die „Normalisierung“ Rußlands jemals möglich? Kann eine vollständige Rückkehr in die Gegenwart gelingen? Offensichtlich nicht. Die Erinnerungen an die Zukunft werden für immer wach bleiben. Der Zeitunterschied zu den anderen Völkern, die immer noch aus der Vergangenheit in die Zukunft gehen, wird bei den Russen, die aus der Zukunft in die Vergangenheit gekommen sind, unüberwindlich bleiben – zumindest solange die sogenannte Moderne andauert. Der Ausgleich wird vielleicht erst dann gefunden, wenn die ganze Menschheit die Zeitmaschine besteigt und aus der Moderne in Richtung Vergangenheit aufbricht. Auf die Chance kann man aber momentan nicht hoffen.
Diesen Beitrag entnehmen wir mit freundlicher Genehmigung der Syndikat Buchgesellschaft für Wissenschaft und Literatur der Zeitschrift TUMULT, Nr. 22, 1996
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen