■ Normalzeit: Die Kantstraße – einmal rauf
Zwischen Kaiser-Wilhelm- Gedächtnislücke und Gummibahnhof/ICC befindet sich eines der wenigen PLUS-„Prima Leben und Sparen“-Soziotope, die augenscheinlich noch oder schon wieder funktionieren – im Gegensatz etwa zu Ku'damm, Friedrichstraße etc. Die Kantstraße ist voller Merkwürdigkeiten: Gleich vorne – hinter dem Restaurant „Jangtsekiang“, dem Beate- Uhse-Laden und dem „Sex- Kino“ – stehen die Reste vom „Teppichhaus Kibek“, das die taz zuletzt mit Anzeigen geradezu überschüttete. Der „Verbrauchermarkt Ullrich's“ unter den Brücken wird besonders von Afrikanern frequentiert, deswegen eröffnete gleich nebendran ein Laden für Haar- und Hauttöner namens „Black Beauty“. Dann kommt das „Quasimodo“ und das „Delphi-Kino“ – das einzige Kino, das sich seine Großplakate noch von Hand malen läßt: von Werner senior und junior. Im Haus des „Volkswohlbundes“ domiziliert sinnigerweise der „Deutsche Interessenverband der Kapitalanleger“ (in Emden residiert übrigens die lokale Unternehmerschaft im „Club zum guten Endzweck!“).
Es gibt insgesamt 21 Schuhgeschäfte in der Kantstraße – sie wie ebenso die Klamotten- und Schmuckläden neigen zu neckischen Namensgebungen (in der Zeit wurde dies gerade am Beispiel der Friseursalonnamen gegeißelt). Es lohnt sich aber auch, auf die Mieternamen zu schauen: „Jede Klingeltafel verrät ein Völkergemisch“, schreibt der FAZ- Kantstraßen-Rezensent Rietzschel, der aber eigentlich nur bis an den Savignyplatz vordrang. Bis zum Kakteenladen „Il Cacto“ (im Haus Nr. 23) und zur WG, in der ein „von Richthofen“ wohnt (Nr. 27), kam er nicht. Jahrelang gab es in der Nr. 16 einen Laden namens „Ceiling Fans“, der mir Rätsel aufgab: Wie kann einer sich nur mit dem Verkauf von Deckenventilatoren so lange in diesem kalten Berlin halten? Jetzt ist er – zum Glück für meinen Wirtschaftssachverstand – pleite gegangen.
Der Anwohner Till Meyer schimpft auf die vielen Import- Export-Läden, die die Kantstraße kaputtgemacht hätten nach der Wende, siebzig sollen es gewesen sein. Jetzt ist ihre Zahl stark rückläufig, da viele fliegende Händler aus Polen, ihre Hauptkunden, sich „niedergelassen“ haben. In der Nr. 32 wohnt ein(e) „Weizsäcker“ in einer WG. Nebendran gibt es spanische Waren des täglichen Bedarfs. Obendrüber lebte bis zu seinem kürzlichen Tod der Jerry- Cotton-Autor Heinz-Werner Höber, dem die Berliner Polizei die amerikanische (doppelhändige) Art des Dienstpistolenschießens verdankt. Das Automaten-Casino „Cosmos“ (Nr. 35) ist ein beliebter Rentnertreff. Die „Aram-Apotheke“ gehört der kurdischen Ärztin Dr. Al- Jaaf-Golze.
In Nr. 54 hat die Rechtsanwältin Emine Özden ihre Praxis. Der Tabakladen „Kiwus“ könnte weitläufig mit der Akademie- Dichterin Karin Kiwus verwandt sein. Die Pizzeria in Nr. 61 heißt „Senza Nome“. In Nr. 62 betreibt ein „Hassodenteufel“ den Busreisedienst „Luzifer“. Die Kneipe in Nr. 65 nennt sich „Hallöchen“, obendrüber wohnen irgendwelche „Süßmuth“ und „Geissler“. Und viele, viele „Projekt-Consultants“. Dann kommt die Kneipe „Ohlsen-Bande“ sowie ein „Super-Döner“. Eine russische Buchhandlung, das „Ignatiushaus“ der Jesuiten mit ihrem Exerzitienwerk. „Coiffeur Axel“. Das Restaurant „Hinkelstein“. Schließlich: der Zentral- Omnibus-Bahnhof – mit regelmäßigen Busverbindungen nach Budapest, Sofia, Poznan, Warschau, Tallin, Riga, Kopenhagen, Prag, Bad Salzuflen. Neben zwei Imbißständen und einer „Geschenkboutique“ gibt es dort auch eine „Hotel-Direktbuchungstafel“, die bei ihrer Installierung ganz sicher eine hypermoderne Angelegenheit war. Jetzt übernachten die meisten hier Ankommenden sowieso bei Freunden oder Verwandten. Helmut Höge
wird fortgesetzt
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