■ Seit gestern fasten sie wieder: Deutschlands Muslime, gläubig oder ungläubig, unterwerfen sich den Regeln des Ramadan. Lustlose Enthaltung am Tag mündet in lustvolle nächtliche Feste: Der Kult der Nüchternheit
Seit gestern fasten sie wieder: Deutschlands Muslime, gläubig oder ungläubig, unterwerfen
sich den Regeln des Ramadan. Lustlose Enthaltung am Tag mündet in lustvolle nächtliche Feste
Der Kult der Nüchternheit
Ali Cicek holt seine Kappe aus dem Regal, zieht sich den Fellmantel über und klettert die 40 Stufen hinauf zum Minarett, um die Kreuzberger Türken aus dem Schlaf zu holen und an das Fasten zu erinnern. Das Megaphon der großen Moschee hat Siemens rechtzeitig zum heiligen Monatsanfang gestiftet. Helmut Kohl, immer noch im Amt, hielt die Rede an jenem denkwürdigen Tag, als die Süleymaniye Camii in der Oranienstraße eingeweiht wurde. Über das mittlerweile seit einem Jahr zum Lieblingssender der Berliner Türken aufgestiegenen „Bizim FM“ wird der Gebetsruf von Marzahn bis nach Hellersdorf übertragen und über Satellit auch nach München und Düsseldorf. Die Türkei in Deutschland erwacht zum Ramadan.
Noch ist das keine Wirklichkeit. Noch suchen die Muslime ihre Fastenzeiten im kleingedruckten Ramadan-Kalender der Hürriyet oder schalten die türkische Sendung des WDR ein, um die genauen Uhrzeiten in der Nacht zu erfahren, ab wann nicht mehr gegessen, getrunken und geraucht werden darf. Dieses Jahr fällt Ramadan in den tiefsten Winter. Gegen 6 Uhr muß das nächtliche Essen, für viele das erste Frühstück, beendet sein. Ramadan bedeutet „der Tag, der den Sand zum Glühen bringt“ und ist der neunte Monat des arabischen Kalenders, der sich nach dem Mond richtet. 30 Tage lang müssen die Muslime von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang fasten. Der Ramadan endet mit einem dreitägigen Fest, dem Zuckerfest.
„Wenn du es nicht sagtest, wüßte ich nicht, daß Ramadan beginnt“, sagt Ömer Yildirim, Taxifahrer mit Politikdiplom. „Ich habe in der Türkei nie gefastet, warum sollte ich es hier tun“, meint er achselzuckend.
Wie viele fasten denn überhaupt? Riza Baran, bündnisgrüner Abgeordneter aus Kreuzberg, zitiert eine Untersuchung, nach der sich 64 Prozent der Befragten an die islamischen Vorschriften halten. Nach BaransMeinung ist dieser Prozentsatz viel zu hoch: „Wer die Landsleute kennt, der weiß, daß gerne übertrieben wird, wenn es um Gott und das Vaterland geht.“ Tatsächlich knipst manche Hausfrau gegen Morgen das Wohnzimmerlicht an, um sich nicht vor den Nachbarn zu blamieren: Seht her, bei uns wird auch zum Fasten aufgestanden!
Keine Gaststätte, keine Dönerbude und keine Disko schließt im Ramadan, wenn man von den direkt den Moscheen angegliederten Imbißstuben einmal absieht. Die Lebensmittelhändler und Bäckereien verdoppeln vielerorts ihre Umsätze – im Ramadan wird paradoxerweise mehr an Lebensmitteln konsumiert als in den übrigen Monaten des Jahres. Vor allem der Verkauf der Fladenbrote und schwarzen Oliven, traditionell die wichtigsten Utensilien jeder Fastenbrech-Tafel, schnellt in die Höhe. Am Zuckerfest zum Ende des Ramadans werden in jedem Haushalt festliche Mahlzeiten aufgetischt – was die Weihnachtsgans für die einen, sind Lammbraten und Vorspeisen für die anderen.
Ramadan und Zuckerfest gehören zu den Höhepunkten des türkischen Lebens in Deutschland wie das Opferfest und der sommerliche Türkei-Urlaub.
Die Alten erinnern sich an die Zeit vor 30 Jahren, als die „Gastarbeiter“ in den warmen Bahnhofshallen herumlungerten und wehmütig den abfahrenden Zügen nachschauten. „Damals kümmerte sich kaum jemand um Ramadan“, erzählt Ahmet Akyol, Frühpensionär und Pendler zwischen Istanbul und Berlin. „Man entschuldigte sich vor Gott und den Sterblichen mit dem Argument, ,seferi‘ (auf Reise) zu sein.“ Der Reisende mit festem Wohnsitz in Deutschland fastete meist überhaupt nicht, und irgendwann mußte er zugeben, daß aus der Heimreise so bald nichts werden würde. „Gott schaute auf seine Untertanen in der Diaspora und sagte: Ahmet – daß du mich betrügst, ist verständlich. Aber warum betrügst du dich selbst noch? Du bleibst in Deutschland, also fange langsam an zu fasten, bevor es zu spät ist.“
Safter Cinar, Leiter der DGB- Ausländerberatungsstelle in Berlin, wundert sich, daß „inzwischen auch jüngere Leute, die sonst nichts mit Religion am Hut haben“, fasten. Für junge Türken wird das Fasten zu einem neuen Identitätsmerkmal, wie Ceyhun Kara vom Türkischen Informationszentrum bestätigt. Unter den Gymnasiasten, die sich regelmäßig in ihren Räumen treffen, mehren sich die Fastenden von Jahr zu Jahr – „und das nicht nur, weil der Vater sonst das Taschengeld streichen würde“. Selma ist eine dieser Schülerinnen: „Ich sehe das wie eine Entschlackungskur. Es gibt bei uns in der Schule welche, die plötzlich Buddha für sich entdecken, ihr Zimmer Tag und Nacht mit Duftstäbchen einräuchern. Und ich faste eben.“
Am Erstarken der religiösen Tradition in der Diaspora ist nicht zuletzt die deutsche Regierung schuld, wie Baran erläutert. Nach der Ölkrise Anfang der siebziger Jahre kam der Anwerbestopp, und der hatte bekanntlich die Familienzusammenführung zur Folge. Zu dem einsamen Arbeiter „auf Reisen“, der sich abends höchstens zwei Eier in der Gemeinschaftsküche des Wohnheims in die Pfanne schlug, gesellte sich nun die Frau, die mindestens fünf Sorten Speisen auf der nächtlichen Fastentafel präsentierte. Jetzt lohnte es sich zu fasten.
Und doch wird Ramadan in Deutschland anders gelebt als in der Türkei: Während in anatolischen Städten oder in den von Religiösen bewohnten Vierteln der türkischen Großstädte auf die Nichtfastenden ein immenser Gruppendruck ausgeübt wird, bleibt das Fasten in Deutschland dem Willen des einzelnen überlassen. Kaum einer wird in Kreuzberg oder Altona schief angesehen, weil er auch im Ramadan im „Hasir“ seinen täglichen Döner holt oder in „Bolkepce“ seine üppige Linsensuppe auslöffelt. Diese Freiheit ist ganz nach den islamischen Regeln, die zwischen Allah und dem Sterblichen keine Mittler erlauben und nach denen jeder selbst sehen muß, ob er vorschriftsgemäß leben will oder nicht. Dilek Zaptçioglu
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