Haltestelle in der Wüste
Heut gibt's in Leningrad so wenig Griechen –
wir rissen ihre Kirche einfach ab,
und auf dem Platz, der dadurch freigeworden,
wuchs ein Konzerthaus. Etwas Hoffnungsloses
liegt in dem Bau. Obwohl – so ein Konzertsaal,
der tausend Plätze hat, womöglich mehr,
ist doch nicht ganz so hoffnungslos. Es ist
ein Tempel, ein Tempel für die Kunst. Ja, wer
ist denn dran schuld, daß Sangeskunst halt doch
mehr Volk anzieht als Fahnen eines Glaubens?
Es ist nur schade, daß wir jetzt von weitem
nicht wie gewohnt das Rund der Kuppel sehn,
statt dessen eine Linie, häßlich, flach.
Die Häßlichkeit der Proportionen: Der Mensch
hängt weniger von ihnen ab als von
den Proportionen all des Häßlichen. [...]
Heut gibt's in Leningrad so wenig Griechen
und überhaupt zu wenig außerhalb
von Griechenland. Zu wenig jedenfalls,
um ihre Glaubenshäuser zu erhalten.
An das zu glauben aber, was wir bauen,
verlangt man nicht von ihnen. Eines ist's,
im Kreuzeszeichen die Nation zu taufen,
ein andres aber, dieses Kreuz zu tragen.
Sie hatten eine einzige Verpflichtung.
Sie haben's nicht vermocht, sie zu erfüllen.
Das ungepflügte Feld ist zugewachsen.
„Du, Sämann, sollst bewahren deinen Pflug,
wir sagen, wenn die Zeit der Ähren kommt.“
Sie haben ihre Pflüge nicht bewahrt. [...]
aus dem Gedicht von Jossif Brodskij
Enthalten im deutsch-russischen Gedichtband „Petersburg – die Trennung währt nicht ewig“, übersetzt von Kay Borowsky, Verlag Barbara Staudacher, Stuttgart 1996, 24 DM