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Vorhang, Licht, Person

■ "Wir verhalten uns asketisch": Geoffrey Hartman, der Leiter des Videoarchivs von Holocaust-Zeugnissen an der Universität Yale und derzeit Gastdozent in Potsdam, im Gespräch über seine Arbeit und das Konzept des "int

taz: Wie reden Sie mit Überlebenden, gibt es eine „Gesprächstechnik“?

Geoffrey Hartman: Wir legen es auf einen Monolog an. Es soll auf keinen Fall zu viele Nachfragen geben, sondern ein selbstgelenkter Prozeß bleiben. Unser Archiv ist ja aus einer Graswurzelbewegung von Überlebenden in New Haven entstanden, die enttäuscht waren von der Fernsehserie „Holocaust“ und die beschlossen hatten, daß da einiges klarzustellen war. Die ersten Filme entstanden direkt in diesem Bezirk, wie eine Selbsthilfegruppe eben, und entsprechend selbstgelenkt.

Die meisten Überlebenden sind sogenannte einfache Leute. Sie mußten meist eine neue Sprache lernen, oft eine neue Ausbildung anfangen. Der Versuch, eine lineare Erzählung zu erhalten, indem man anfängt mit „Sie sind dann und dann geboren, in XY aufgewachsen“, das hat keinen Sinn, weil das die Leute daran hindert, sich spontan in die eigene Geschichte zu vertiefen. Es geht darum, auf den Videos den Akt des Erinnerns sichtbar zu machen.

Wann fängt „Holocaust“ in diesen biographischen Erzählungen an, und, vor allem, wann hört er auf?

Unsere Interviewer erfragen drei Phasen des Geschehnisses: die Vorgeschichte – gab es Antisemitismus in Frankfurt, in Prag, in Bialystock, wann wurde sich der Überlebende seiner Lage bewußt? Dann die Verfolgung. Aber schließlich auch die dritte Phase, wie sie befreit wurden und was das bedeutet hat. Die meisten hatten nach der Befreiung enorme Schwierigkeiten, nicht zuletzt weil die Erwartung groß war und sie das Leben ein zweites Mal erobern mußten. In diesem Teil soll aber auch von den Kindern die Rede sein, den Häusern, den neuen Freunden. Aber ein Ende haben diese Erzählungen nicht, der Holocaust hat kein Ende. Das merken Sie doch auch in Berlin: Noch immer diskutieren Sie, was es für ein Mahnmal geben soll.

Fragen Sie nach, wenn jemand eine bestimmte Erinnerung schützen will?

Wir verfahren nicht wie Claude Lanzmann in seinem Film „Shoah“ (1985), der immer wieder auf den Kern der Vernichtung drängt. Es kommt vor, daß die Verdrängung weite Teile der Lagererfahrung zum Beispiel überdeckt, aber diese Erinnerung bahnt sich auf seltsamste Weisen ihren Weg. Ich kann mich an einen Mann erinnern, den wir in Israel interviewt hatten. Er wußte nicht mehr viel von dem Lager, in dem er war, und ging nach Hause. Auf einmal fiel ihm ein, daß er etwas aufgeschrieben hatte in dieser Zeit! Er fand das Notizbuch und meldete sich sofort zu einem zweiten Gespräch. Vor der Kamera fing er an zu lesen, unterbrach sich aber bald und sagte laut „Aber das stimmt doch gar nicht!“ und begann, mit sich selbst zu argumentieren. „Jetzt erinnere ich mich, und es war nicht so, wie es hier steht!“

Zu der von Historikern vertretenen Auffassung, über den Holocaust könne es keine Erzählung geben, gehört auch die These, daß sich aus dem Geschehen nicht lernen läßt. Stimmen Sie dem zu?

Ich glaube, man kann diese Erfahrungen schildern, man kann sie nur zu gut schildern. Man hat an „Schindlers Liste“ gesehen, daß der Realismus uns ein weites Arsenal von Mitteln zur Verfügung stellt. Was das Lernen betrifft: Ich habe erst in den letzten zwei Jahren angefangen, selber Kurse zum Thema zu geben, und da sieht man, daß die Studenten das absorbieren, daß sie verändert daraus hervorgehen. Lernen in diesem Sinn kommt nur dann nicht zustande, wenn man die Erfahrungen auf simple moralische Aussagen reduziert. Die Stärke des Zeugenvideos besteht darin, daß man nicht die Tat selbst sieht, sondern jemanden, der das durchgemacht und der die Courage hatte, darüber zu reden. Er ist also nicht nur ein Opfer. Im Lager konnte man nicht erzählen, weil zum Erzählen die Vorstellung von einer Zukunft gehört. Man hat nur die eine Hoffnung, daß man erzählen könnte, wenn man befreit wird.

Wenn Sie die Zeugenvideos einmal ausspielen gegen andere Rezeptionsformen, Spielfilme zum Beispiel, sehen Sie da eine Konkurrenz?

Ja und nein. Wir arbeiten für ein Archiv, das heißt, wir verhalten uns, was die Ästhetik betrifft, asketisch, homöopathisch, wenn Sie so wollen. Wenn wir einen Film machen wollten, würden wir die Aufnahmen im Haus des Überlebenden machen. Das wäre bunter, gemütlicher. Das machen wir aber nur, wenn jemand sehr alt ist. Sonst drehen wir in einem Raum, da gibt es nur Vorhang, Licht und die Person. Filme wie der von Lanzmann sind natürlich insofern eine Konkurrenz, als sie auch aus Interviews bestehen. Aber sowohl sein Ziel als auch seine Methoden sind völlig andere. Er sagt: „In meinem Film sagt niemand ,ich‘.“ Weil er durch die Lebenden zur Vernichtung vordringen will, interessiert er sich auch nicht für die Errettung eines einzelnen. Das ist eine fast tyrannische Herangehensweise, und wir haben in Israel Überlebende getroffen, die darunter sehr gelitten haben.

Wie verhält sich die Kamera in Ihren Videos?

Wir haben ja 25 Zweigstellen überall auf der Welt, und wir lassen ihnen freie Hand; höchstens weisen wir sie darauf hin, daß sie nicht zuviel mit der Kamera machen sollen. In Israel gab es eine Zeitlang die Linie, die Kamera überhaupt nicht vom Fleck zu bewegen, und das ist einfach zu starr. Als wir angefangen haben, hatten wir einen Kameramann, der wollte Bergman sein. Er gab dem Gesicht einen ganz engen Rahmen, bis es die ganze Leinwand ausfüllte, wie in „Persona“.

Als Steven Spielberg mit seinem Videoprojekt anfing, ist das oft als ein Retterimpuls beschrieben worden, der Anti-Lanzmann sozusagen: soviel wie möglich der Nachwelt erhalten. Geht es Ihnen ähnlich?

Was ist die kritische Masse in diesem Zusammenhang? Wie viele soll man aufnehmen? Als wir eintausend hatten, dachten wir, jetzt könnten wir eigentlich aufhören. Aber unser Prinzip ist, wenn jemand kommt und will reden, dann wird er aufgenommen. So waren es dann schnell zweitausend, dreitausend... Am Anfang kamen nicht viele, es war keine Mode, das Konzept war noch nicht koscher. Der Großteil der Leute, die wir aufgenommen haben, hat nie öffentlich davon gesprochen. Ich erinnere mich an eine Frau, die auch geschwiegen hatte, weil sie dachte, es sei nicht gut für die Kinder. Eines Tages erfuhr ihr Sohn in der Schule, was in der Hitlerzeit mit den Juden geschah. Da ist er nach Hause gekommen und hat „Heil Hitler!“ gesagt. Die Frau hat sich zu Tode erschrocken und ihn gefragt: „Warum sagst du das zu mir?“ Da ist er ins Klo gegangen, hat sich eingeschlossen, und als er nach einer halben Stunde wieder rauskam, hatte er sich die Hand blutig gekratzt. Wie kam das, hat sie sich gefragt, habe ich vielleicht doch davon gesprochen?

Jetzt auf einmal ist das Reden darüber fast eine Mode. Spielbergs Impuls ist verständlich: Sie sterben aus, ich nehme 50.000 auf! Ich halte das für zuviel, zu monumental. Aber ein Problem ist es erst, wenn damit zu schnelles Drehen verbunden ist.

Kommt das, was Sie „Mode“ nennen, nicht auch da her, daß die jüdische Erfahrung inzwischen zu einer amerikanischen geworden ist, durch „Holocaust“ oder Spielbergs eigenen Film, die Museen, die Forschungseinrichtungen?

Das spielt sicher eine Rolle, aber der Wendepunkt war einer im Bewußtsein des Überlebenden. Seine Kinder bekommen Kinder, und die dritte Generation ist jetzt zur intellektuellen Reife erwachsen – aber das kann natürlich nicht lange so sein. Hinzu kommt, was Sie ansprechen: Die Überlebenden fühlen sich nicht mehr als displaced persons, sie haben einen Stand im amerikanischen Leben, ihre Sache ist auch eine öffentliche Angelegenheit. Man hat jetzt den Eindruck, überall ist vom Holocaust die Rede, so laut und dröhnend, aber das wird nicht lange dauern. In spätestens zehn Jahren ist diese Hochkonjunktur vorbei, jeden Tag sterben Zeitzeugen.

Im Potsdamer Einstein-Forum werden Sie heute abend Ihr Konzept vom intellektuellen Zeugen vorstellen. Was hat es damit auf sich?

Als jemand, der mit unmittelbaren Augenzeugen zu tun hat, aber selbst keiner ist, fragt man sich natürlich: Was ist meine Position, wo stehe ich? Ich selbst bin 1939 mit einem Kindertransport aus Frankfurt nach London geflohen, habe also nur eine „halbe“ Erfahrung. Ich habe mich angesichts meiner Arbeit gefragt, ob da nicht doch eine Art Ausbeutung im Spiel ist: Seit Jahren beschäftige ich mich mit Terror, Gewalt, Vernichtung, und ich will nicht hygienisch damit umgehen. Also stellt sich die Frage: Pathos oder Distanz? Der intellektuelle Zeuge ist ein Zeuge zweiten Grades, er erfährt vermittelt. Aber es reicht nicht, kognitiv vorzugehen. Man muß empathisch vorgehen, und das heißt, daß man auch traumatisiert wird. Auf einem unserer Videos sieht man, wie der Überlebende sich seinem Interviewer freundlich zuneigt und ihn fragt: Warum weinen Sie? Interview: Mariam Niroumand

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