: Zahme Lust puritanischer Ausschreitungen
■ John Jasperses „Excessories“ eröffnet die „IndepenDanceDays“ auf Kampnagel
Ein Tanzstück, dessen Titel sich aus Excess und Accessories zusammensetzt und dessen Beipackzettel verspricht, es würde sich in „provokativer Unverschämtheit“ mit Liebe und Sex auseinandersetzen weckt zwangsläufig gewisse Assoziationen. Von schmutzig über wild zu leidenschaftlich mag man spazieren denken und wird von dem amerikanischen Choreografen John Jasperse gehörig genasführt – wobei schnell die Frage auftaucht, ob die Genasführung wirklich willentlich oder nur ein kulturelles Mißverständnis ist.
Denn Jasperses Choreografie Excessories, mit der am Mittwoch das Tanzfestival IndepenDanceDays auf Kampnagel eröffnet wurde, zeigt Erregung in eher puritanischen Ausmaßen, im Verzicht auf kraftvolle Dynamik und erotische Aufladung. Dem Betrachter erklärt es sich somit nie, ob hier US-amerikanische Prüderie die Grenzen setzt oder ob Jasperses intellektueller Kopf Lust nicht losgelöst von Kontrolle betrachten will.
Sollte jener Verzicht auf Entregelung und Selbstvergessenheit in der Begierde die angesprochene „provokative Unverschämtheit“ sein, dann entschlüsselt sich die kühle, behäbige und steife Schönheit der Choreografie als ein präziser Ausschnitt jenes Moments, wo der Geist auf der Schwelle zwischen Unsicherheit und Entladung seine Kontrolle noch in einem merkwürdigen Schwebezustand ausdrückt: Lust in der Anbahnung, gefangen zwischen Sehnsucht und Angst.
Vielleicht hat der junge, ausgezeichnete Choreograf, der im fünfköpfigen Ensemble selbst mittanzt, aber auch nur die handwerkliche Ästhetik muskulärer Tätigkeit beim Liebesleben im Blick, die er mit einem gewissen Schalk bearbeitet. Ein Pimmel- und Titten-Ballett, das in den USA wohl zum Auftrittsbann aus Veranstalterfeigheit geführt hat, über das man aber in Europa nur schmunzeln kann, zeugt ebenso von diesem Witz wie Szenen, wo ein verschnürter Mann mit S/M-Maske auf dem Boden liegend ein Chanson anstimmt, oder ein Ringkampftanz zweier Leptosomer.
Der Wert von Nähe und ihre Konsequenzen sind dann aber schon nicht mehr Teil dieser vergeistigten Bewegungskonstruktionen zu einer Collage aus Liedern und kleinen textlosen Hörspielen, die der Reduktion des Geschehens etwas Rätselhaftigkeit schenken. Nähe ist hier ein Fakt, das nichts auslöst und auch keinen eigentlichen Zweck über die kunstvolle Inszenierung hinaus erkennen läßt. Und deswegen stellt sich die Frage bis zum Ende der einstündigen Choreografie, welchen Exzess John Jasperse eigentlich meinen könnte. In seiner konsequenten Ausblendung jeder Aufhebung von Konvention – was Exzess ja wohl meint – ist die radikale Abwesenheit von Exzessen das einzig Exzessive.
Till Briegleb
noch heute und morgen, Kampnagel, k6, 19.30 Uhr
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