Der Amnesie-Klub

Auch zum 50sten Jubiläum ist beim „Spiegel“ eine Analyse der eigenen Geschichte unerwünscht  ■ Von Lutz Hachmeister

Der PDS-Politiker Gregor Gysi wurde am vergangenen Sonntag bei „Talk im Turm“ ungeduldig. Der Spiegel habe doch öffentlich Aufklärung darüber versprochen, daß er in den 50er Jahren SS-Offiziere an prominenter Stelle beschäftigte (siehe taz vom 27.112. 1996), und nun sei wieder nichts darüber erschienen. Unwirsch verwies Chefredakteur Stefan Aust auf das Sonderheft zum 50jährigen Spiegel-Jubiläum, baute aber gleich vor: „Da gibt es keine Riesengeschichte dazu, denn so wahnsinnig viel Neues gibt's da nicht.“ Dann leitete er schnell an seinen Amtsvorgänger Erich Böhme weiter, der sich ebenfalls für inkompetent erklärte. Ein Drei-Millionen- Publikum hörte dessen bizarre Rede: „Es waren keine Verbrecher, es gibt keine Urteile gegen die, gar nix ... umgebracht hat er keinen, 'nen Aufsatz hat er keinen geschrieben, der das Nazitum verherrlicht hat ...“

Aus den Ressortleitern und Mitarbeitern der frühen Jahre, die im NS-Staat zur jungen Funktionselite gehört hatten, sind Untote geworden. „Kleinere Chargen“ (Aust), über die man nichts Genaues wissen will. Immerhin einen „festen Mitarbeiter über einen längeren Zeitraum“ mit NS-Vergangenheit gab Aust zu, bevor er die passende Erlösungsfomel fand: „Ich weiß von nix.“

Unter einigem Außendruck hat der Spiegel diesem Aspekt seiner Gründungsgeschichte in der Jubiläumsausgabe, großzügig gerechnet, stolze 42 Zeilen gewidmet – immerhin die erste Äußerung, die man in irgendeiner Spiegel-Publikation dazu überhaupt findet. Allerdings wird auch in der Sondernummer munter die Tradition der Halbwahrheiten und Auslassungen fortgesetzt. Der Spiegel sei „immerdar ein antifaschistisches Geschütz von Anbeginn“ gewesen, resümiert der Text, was zählen da schon die Fakten. Der Spiegel- Leser erfährt, daß „die Informationen für zwei zeithistorische Serien“ von dem Kriminalisten Bernd Wehner kamen, der „im Reichssicherheitshauptamt das Attentat vom 20. Juli 1944 untersucht“ hatte. Da war selbst Augstein im Interview mit Sabine Christiansen auskunftsfreudiger, als er Wehner „meinen Polizeireporter“ nannte. Denn in Wirklichkeit ging es bei Wehners Mitarbeit um lupenreine Propaganda für die Wiederbeschäftigung einer „Elite der alten Sherlock Holmes“ (Spiegel) von der Reichskriminalpolizei, deren herausragende Fachkenntnisse in der neuen Bundesrepublik Spiegel-Herausgeber Augstein nicht genügend gewürdigt fand. Dringend zur Wiederverwendung empfohlen wurde etwa Dr. Walter Zirpins, einst Chefausbilder im Reichssicherheitshauptamt und 1940/41 auch für den Raub von Gold und Wertsachen im Ghetto Lodz zuständig. Im Jubiheft Fehlanzeige.

SD-Mann und (seit 1952) Spiegel-Ressortchef Horst Mahnke war laut Sonderausgabe tatsächlich beim „Vorkommando Moskau“ mitmarschiert, „das am Judenmord in Smolensk teilgenommen hatte, wie sich später herausstellte“. Später ist gut: Bereits 1947 war es im öffentlichen Nürnberger Prozeß ausführlich um die Smolensker Aktionen des Vorkommandos gegangen, woraufhin Mahnke alle möglichen eidesstattlichen Versicherungen für seinen angeklagten Exchef Franz Alfred Six abgab. Georg Wolff, einst stellvertretender Chefredakteur beim Spiegel, findet sich in der Jubiläumsnummer als „Hauptsturmführer beim SS-Auslandsnachrichtendienst in Norwegen“ wieder, „auch er an Verbrechen nicht beteiligt“. Indes, Wolff war beim SS-Auslandsnachrichtendienst gar nicht attachiert. Im April 1940 war er mit dem SD-Einsatzkommando unter Leitung des fanatischen SS-Brigadeführers Franz Walther Stahlecker in Norwegen einmarschiert und hatte dort als Referatsleiter in der SD-Abteilung III gewirkt, zuständig für die allgemeine Lagebeobachtung.

Erkenntnisse solcher Abteilungen wurden zur Vorbereitung operativer Entscheidungen benutzt. Weil Planung und Exekutive gerade im Fall des SD nicht auseinanderzuhalten waren, hat der Nürnberger Militärgerichtshof den Sicherheitsdienst der SS 1946 als „verbrecherische Organisation“ verurteilt.

Chefredakteur Aust hat nicht begriffen, worum es bei der taz- Veröffentlichung zur Frühgeschichte seines Blattes eigentlich ging. Es sollte nichts à la Spiegel „enthüllt“ werden, auch war keine verspätete Anklage gegen ehemalige Mitarbeiter zu erheben – nur daß der Spiegel bei anderen Vergangenheitspolitik betrieb, während er selbst unreflektiert die eigene Legende vom „linksliberalen“ Blatt tradierte, verlangte nach einer nüchternen Darstellung. Zumal wir inzwischen über die Geschichte von Reichssicherheitshauptamt und SD durch neue Materialien aus polnischen und russischen Archiven erheblich mehr wissen als noch vor zehn Jahren.

Der Spiegel aber hat kein Interesse an einer halbwegs intelligenten Darstellung seiner Geschichte. Denn wer eigene Fehlbarkeit zugibt, kann die Pose der unantastbaren Draufsicht nicht halten. Für die männerbündische Crew wäre dies nicht nur lästig, es rührte an der Konstitution des Blattes. Unter dem Konkurrenzdruck auf dem Zeitschriftenmarkt ist für eine tiefergehende Selbstanalyse kein Platz. Enzensbergers herbe Sprachanalyse von 1957 würde heute wohl kaum mehr abgedruckt. Heute freut sich die Spiegel-Führung über Reich-Ranickis Gratulation und läßt sich vom Bundespräsidenten im staatstragenden Akt würdigen. Sehnsucht nach Selbstbenebelung statt Courage. „Daß der Spiegel und seine Leser noch fähig sein könnten zu einem Konstitutionswandel“, so hat Claus Koch in der Süddeutschen Zeitung geschrieben, „dafür gibt es nicht das geringste Anzeichen. Sie sind so immobil wie alle Institutionen der Bundesrepublik, festgeschraubt in der deutschen Fatalität, die erst mit der mutlosen Wiedervereinigung ganz bloßgelegt worden ist.“

Eine Analyse von 50 Spiegel- Jahren, die avancierten zeit- und medienhistorischen Kriterien Rechnung trüge, führte wohl weitgehend zur Umwertung der gängigen Spiegel-Geschichte. Die Nähe von Augsteins politischer Romantik zur Publizistik der Zehrers, Frieds und Wirsings vom „Tat“- Kreis wäre zu untersuchen, die engen Verbindungen zum Bundesnachrichtendienst und der tatsächliche Verlauf der Spiegel-Affäre 1962. Examenskandidaten der kommunikationswissenschaftlichen Studiengänge haben also noch genug zu tun, aber das Jubelheft wird ihnen bei solchen Projekten kaum weiterhelfen.

Mit seinen Kalamitäten im Umgang mit der eigenen Vergangenheit steht der Spiegel im publizistischen Gewerbe natürlich nicht allein. So fragte sich 1994 der ehemalige Zeit-Chefredakteur Theo Sommer besorgt: „Wenn aber erst einmal der Spiegel aus dem Kernverband der schwergewichtigen Publizistik ausscherte – wie sollten sich dann die anderen Flaggschiffe des seriösen Journalismus auf die Dauer gegen die Lustbarken und Vergnügungsdampfer behaupten?“

Der Kernverband muß also gemeinsam weitersegeln, auch um den Preis, daß man sich zur Mitgliedschaft im Hamburger Amnesie-Klub verpflichtet. Das schönste Aperçu zum Jubiläum hat darum die Deutsche Post AG mit ihrer Gratulationsanzeige in der Spiegel- Sondernummer geliefert. Deren Textzeile lautet: „In fünfzig Jahren nichts unter den Teppich gekehrt. Weiter so!“