piwik no script img

Die letzte Grenze

Montana verkörpert wie kein anderer US-Bundesstaat Freiheit und Grenzenlosigkeit. Doch Yuppies verdrängen die Cowboys  ■ Von Karen Thürnau

Als junges Mädchen aus Missouri hatte Anne Charter einen etwas ungewöhnlichen, aber sehr amerikanischen Traum: Sie wollte in den Westen ziehen. Ihre Freundinnen in St. Louis waren entsetzt, als sie ihnen erzählte, daß sie einen Cowboy zu heiraten beabsichtigte. „Aber genau das tat ich“, erzählt Anne Charter, heute 83. „Ich wollte nicht mein ganzes Leben lang Stadtmief um die Nase haben.“ Sie heiratete einen sanftmütigen, offenherzigen, einfachen Cowboy, dessen Vater zur Gang der Western-Legenden Butch Cassidy und Sundance Kid gehört hatte. Auf einer Ranch im Osten von Montana ließen sie sich nieder.

Anne Charter gehört zu einem besonderen Menschenschlag der Amerikaner. Wie viele vor und nach ihr, hat sie sich bewußt und freiwillig für die offenen Weiten des Westens entschieden. Den hohen Preis, den sie dafür bezahlt hat, verraten die tiefen Falten in ihrem Gesicht. Doch sie verrät auch, daß sie ihr Schicksal gegen keine der modernen Vorstadtvillen des Ostens eintauschen würde.

Amerikas Urmythos – der Mythos der unbegrenzten Freiheit – ist in Montana noch immer Gegenwart. Doch in jüngster Zeit hat dieser Mythos alarmierende Formen angenommen. Keine Autostunde von Charters Haus entfernt hatte sich im vergangenen Frühling eine Gruppe von aufgebrachten, bewaffneten Ranchern, die sich selbst Freemen nannten, auf einer Ranch verschanzt und fast drei Monate lang einer Besatzung durch das FBI standgehalten. Schließlich, im Juni, ergaben sie sich freiwillig. Nun verbreiten sie im Gerichtssaal ihre Theorie, fremde, außerirdische Wesen hätten die US-Regierung unterwandert. Zur gleichen Zeit wurde der Eigenbrötler und ehemalige Mathematiklehrer Ted Kaczynski überführt, der Urheber einer 18 Jahre dauernden Terrorkampagne zu sein, während der er Briefbomben an Wissenschaftler und Konzernchefs verschickt hatte. Kaczynski war davon überzeugt, seine Opfer verdürben Amerika mit ihrer seelenlosen Technologie.

Montana stand plötzlich im internationalen Rampenlicht. Doch es war nicht die Art von Aufmerksamkeit, die sich ein Fremdenverkehrsamt wünschen würde. „Hier kommen Leute her, die ihre Phantasien und Visionen ausleben wollen“, sagt Joe Lamson, ein Politfunktionär in der Landeshauptstadt Helena, den es über Kalifornien und Michigan hierherverschlagen hat. „Das ist ein Platz, wo dich niemand anrempelt oder fragt, was du früher in Ohio gemacht hast oder wo auch immer. Leben und leben lassen.“

Vielleicht sind nur ein paar der 850.000 Einwohner in Amerikas drittgrößtem Bundesstaat wirklich „seltsam“. Aber jedes Jahr kommen Tausende neuer Individualisten hinzu, die Anne Charters Lebensmodell kopieren und dem Stadtmief entfliehen wollen – Aussteiger, die sich verwirklichen wollen in einem Staat, der aussieht, als wäre eine Tourismusbroschüre Wahrheit geworden. Klare Flüsse, dichte Wälder, atemberaubende Berge und endloses Grasland, das sich im Norden bis an die kanadische Grenze erstreckt – 800 Kilometer von Westen nach Osten, 450 von Norden nach Süden: Montana ist The Big Sky.

Amerikas moderne Flüchtlinge suchen die Romantik eines Landes, in dem es keine Umsatzsteuer gibt, dessen Geschwindigkeitsbegrenzungsschilder lediglich „vernünftiges und vorsichtiges“ Fahren vorschreiben und in dem man einander so sehr vertraut, daß die Privatnummer des Gouverneurs im Telefonbuch zu finden ist.

Die Aussteiger erwarten ein Paradies, das von erzkonservativen, bewaffneten Neandertalern bevölkert wird. Doch sie finden ein Land, das unter immer schärferen wirtschaftlichen und sozialen Spannungen leidet. „Hier gibt's keine Arbeitgeber. Wer bleiben will, muß sich seinen Job selbst ausdenken“, sagt die Schriftstellerin Elizabeth Wood, die mit ihrem Ehemann, einem Filmemacher, und ihrer 17jährigen Tochter in einem Bruchsteinhaus in Roundup lebt, einer alten Bergwerksstadt in der Nähe von Anne Charters Ranch. Wood ist ein ehemaliges Sechzigerjahre-Blumenkind aus Kalifornien. „Banken und Großunternehmen kaufen immer mehr Land auf, und die Steuergesetze benachteiligen Familienfarmen und kleine Ranchs. Immer mehr Einheimische müssen sich entweder verschulden oder verkaufen.“ Elizabeth Wood, deren Mann aus Montana stammt, scheint den dickköpfigen Individualismus der Einheimischen übernommen zu haben. Sie hat miterlebt, wie das FBI durch die Stadt zog, um die Freemen auszuheben – und ihre Sympathien liegen nicht auf der Seite von Law and order. „Was diese Leute taten, war vielleicht völlig verrückt, aber sie gaben eine Antwort auf den Frust, den viele Leute hier empfinden. Dieser Teil Amerikas ist noch immer sehr jung. Noch Anfang des Jahrhunderts lebten etwas weiter nördlich noch Gesetzlose und Indianer. Die Bisons sind nur wenige Jahre zuvor verschwunden. Deshalb haben die Menschen hier noch immer die Antworten von damals im Blut.“

Amber Benson und Gary Aitken wurden eines Tages alarmiert durch die Explosionen, die von dem Haus eines Neuankömmlings in Nordwestmontana zu hören waren. „Wir fanden heraus, daß er ein pensionierter Fabrikbesitzer aus New Jersey ist, dessen Hobby es ist, riesige Waffen herzustellen“, sagt Benson. „Er hatte sogar seine eigene Maschinenwerkstatt, wo er Kanonen herstellte. Er war harmlos wie ein 12jähriger Junge, der ein neues Spielzeug bekommen hat.“ Trotzdem – Amber Benson, 51, und ihr Mann Gary Aitken, 47, sind empfindlich, wenn es um Waffenfreaks in ihrer Nachbarschaft geht. Unabomber Ted Kaczynski lebte nur einige Kilometer von ihrem Haus entfernt. „Wir kannten ihn nicht. Hier kümmert sich jeder um sich selbst“, sagt Aitken.

Kaczynski, ein 54jähriger Mathematiker mit Doktortitel, der seine tödlichen Botschaften gegen das computerisierte Amerika von seiner kleinen Hütte aus zusammenbastelte, wäre wahrscheinlich verblüfft gewesen, wenn er gewußt hätte, daß der „Feind“ nur ein paar Kilometer die Straße hinab wohnte. Sowohl Benson als auch Aitken sind erfolgreiche Computerprogrammierer, die wie Kaczynski hierhergezogen sind, um sich ihr eigenes Versteck in der Wildnis aufzubauen. Das Paar baut ein zweistöckiges Gebäude auf einem atemberaubend schönen Stück Land neben einem Fluß. Sie können es kaum erwarten, das freie Leben fernab von Großstadtkriminalität und Luftverpestung zu genießen. Ihren Job werden sie in Zukunft in Heimarbeit erledigen: Per Telefon und Internet werden sie ihre Daten ins Büro übermitteln. „Ich fahre noch ab und zu mal nach New York oder Boston, wenn ich muß, aber in unserem Job kann man eigentlich überall leben, wo es eine Steckdose und ein Telefon gibt“, sagt Aitken, der in Seattle aufgewachsen ist. Und man braucht Geld. Grundstücksmakler konstatieren, daß die Preise rapide in die Höhe geschnellt sind. Die Einheimischen selbst kommen kaum noch zum Zug.

Ray Rasker, Wirtschaftswissenschaftler, Deutschkanadier und einer der ersten Stadtaussteiger aus Washington D.C., lebt seit 20 Jahren in Bozeman, einer der wenigen größeren Städte Montanas. Seiner Meinung nach sind nicht Unabomber und Freemen Montanas größtes Problem, sondern die wohlhabenden Babyboomer, die dieses Grenzgebiet zu Tode lieben. „In den letzten 15 Jahren hat sich der Charakter des Landes verändert durch die Neusiedler. Wenn solche Leute mit ihren Faxgeräten und Modems herkommen und ein Stück Land am Fluß kaufen, dann geht sofort das allgemeine Preisniveau in die Höhe. Und langfristig sind auch Natur und Wildnis gefährdet. Wenn wir nicht lernen, diese Art von Wachstum zu kontrollieren, haben wir bald ein großes Problem.“

Eine andere Realität holt allmählich die Wildwest-Romantik ein. Und ein tiefer Graben tut sich auf zwischen den alteingesessenen Ranchern und ihrer traditionellen Lebensweise und den urbanen Techno-Yuppies. Soziale und ökonomische Konflikte machen sich breit. In Yellowstone County, einer der ländlichen Gegenden Amerikas mit der schnellsten Zuwachsrate, haben sich zwischen den schönen, scheinbar endlosen Gebirgszügen schon einige häßliche Schlachten entwickelt.

„Sehen Sie das Haus da unten?“ fragt Carter Neimeyer von der Außenstelle des US-Landwirtschaftsministeriums in Montana, indem er auf ein abgeschlossenes, von Bäumen halbverdecktes Herrenhaus zeigt, „ein Milliardär aus Arizona hat es über einen Makler gekauft, der ihm nicht gesagt hat, daß der Zufahrtsweg über eine private Ranch führt. Ich kenne den Rancher. Er ist ein netter Mann, und wenn man ihn gefragt hätte, hätte er die Zufahrt freigegeben. Aber der neue Besitzer drohte ihm gleich mit einem Gerichtsverfahren, und da ist er eingeschnappt. Er ist ein typischer Mann aus Montana, und er sagte zu mir: „Wenn man mir sagt, ich müsse etwas, dann tue ich es erst recht nicht.“

Neimeyer macht keinen Hehl daraus, wo seine Sympathien liegen: „Dieses Land wird durch die ständigen Besitzunterteilungen und Teilverkäufe immer mehr zersplittert, und die neuen Besitzer haben keine Ahnung von der Kultur und Lebensart, in die sie eingebrochen sind. Es ist ihnen völlig egal. Sie kaufen einfach ein Stück Land, damit sie damit prahlen können, daß sie eine Ranch in Montana haben, und dann leben sie nicht mal hier.“

Wenn man von Anne Charters Ranch aus über die endlose Grasebene schaut, ist es schwer vorstellbar, daß hier nicht genug Platz für jedermann sein sollte. Doch auch Mrs. Charter spürt, daß die traditionelle Lebensweise der Montana-Rancher im Konflikt mit der modernen High-Tech-Welt steht. Von dem Hügel neben ihrem Haus aus blickt sie über das weite Land vor sich, dieses Grenzgebiet, das sich allmählich in ein Disneyland zu verwandeln droht. „Als ich herkam, waren alle unsere Nachbarn Rancher. Heute hat jeder zweite seinen Besitz an irgendwelche wohlhabenden Krawattenhelden verkauft, die dieses Land nicht so nutzen werden, wie wir es taten. Wir verlieren langsam die Kontrolle über unsere Art zu leben.“

„Der Westen ändert sich zu schnell; einige kommen da nicht mehr mit. Aber schon meine Großeltern waren alarmiert über die Veränderungen, die sie miterlebten“, sagt Bill Yellowtail, ein Nachfahre der Crow-Indianer, der jetzt für Montanas Sitz im US-Repräsentantenhaus kandidiert. Yellowtail, der sich noch an manche Ladenschilder „Keine Hunde oder Indianer“ erinnert, ist selbst ein Symbol dieser Veränderung. Wenn er es schafft, wird er der erste Indianer sein, der seinen Staat im amerikanischen Parlament vertritt – eine besondere Ironie in Montana, dem Schauplatz von General George Armstrong Custers berüchtigtem letztem Gefecht.

Über ein Jahrhundert nachdem Amerikas Indianerkriege den Westen „sicher“ für die Expansion der Siedler gemacht haben, ist Yellowtail und seinen Politikern die Aufgabe zugefallen, den neuen Westen sicher vor sich selbst zu machen. Und den Politikern und Grundstücksmaklern mag es vielleicht gelingen, Montana ausreichend zu zähmen für die Bedürfnisse städtischer Yuppies. Aber dann wird es nicht mehr das Land sein, für das Anne Charter St. Louis verlassen hatte – das Montana, dessen wertvollste Qualität die Skepsis gegenüber der Autorität ist. „Mein Mann Boyd hatte keinerlei Respekt vor Autoritäten“, sagt Anne. „Er liebte es, den Männern mit den Aktentaschen zu sagen: Geht doch zum Teufel.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen