: "Lebensqualität steigern"
■ Wohnen in einer autofreien Siedlung bedeutet nicht Verzicht auf Mobilität. Ein Drittel aller deutschen Haushalte ist auch ohne ein eigenes Auto zufrieden
Hollerland ist abgebrannt. Nein, die noch nicht einmal vollendete Neubausiedlung im Bremer Nordosten liegt nicht in Schutt und Asche. In Rauch aufgelöst haben sich aber die 1992 vorgestellten Pläne, mit Hollerland das erste größere autofreie Wohnquartier zu bauen. Gedacht als bundesweites Pilotprojekt, fand Hollerland zwar eine beachtliche Medienresonanz, aber keine Interessenten. Lediglich vier Familien waren zum Schluß bereit, mit der Unterschrift unter den Kaufvertrag für die Immobilie auch auf ihren motorisierten Untersatz zu verzichten.
„Hollerland wäre wichtig gewesen, um zu zeigen, daß ein auto-, abgas- und lärmfreies Stadtviertel nicht nur Vision ist“, bedauert Ulrike Reutter vom Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung des Landes Nordrhein- Westfalen (ILS). Wie beim jährlichen Warten auf das Christkind, so wartet nicht nur die Verkehrsforscherin Reutter, sondern auch die alternative Stadtplaner-Gemeinde, Dutzende von Verkehrsexperten und die Umweltverbände nun seit geraumer Zeit geduldig auf das „Vorzeigeprojekt“. Denn die Zahl autofreier Haushalte ist größer als allgemein angenommen.
Zwar vermeldet das Flensburger Kraftfahrt-Bundesamt seit Jahren steigende Zulassungszahlen, aber die rechnerische Motorisierungsquote von 478 Autos pro 1.000 Einwohner täuscht eine „Vollmotorisierung“ vor, die es gar nicht gibt. Bundesweit verzichten 28 Prozent aller Haushalte auf das beliebte Statussymbol, in den Großstädten mit mehr als 500.000 Einwohnern liegt dieser Anteil sogar bei über 40 Prozent. Statistisch aufgeschlüsselt heißt das: Etwa 14 der 80 Millionen Bundesbürger leben autofrei. Und sind damit ganz zufrieden, wie ILS-Verkehrsforscherin Reutter in Dortmund herausgefunden hat: „Lediglich fünf Prozent der von uns Befragten konnten sich überhaupt nicht an ihr autofreies Dasein gewöhnen.“ Nüchtern spricht Reutter davon, daß Menschen, die ohne Auto leben wollen, für Investoren und Planer ein erhebliches Marktpotential darstellten. Um potentielle Käufer und Mieter für autofreie Siedlungen zu gewinnen, empfiehlt Reutters Kollegin Andrea Dittrich nach Auswertung erster erfolgloser Versuche: „In den Werbeprospekten allein auf den Autoverzicht abzuheben, ist der falsche Weg, wichtiger ist dagegen, die damit verbundene Steigerung der Lebensqualität hervorzuheben.“
Eine neue Chance, aus diesen Fehlern zu lernen, bietet sich im westfälischen Münster. Auf dem Gelände der ehemaligen Hindenburg-Kaserne in bester Innenstadtlage wollen die Johanniter- Unfallhilfe und die Wohnungsgesellschaft Münsterland die langersehnte erste autofreie Siedlung bauen. 250 Wohnungen sind an dem Standort geplant, für den die Düsseldorfer Landesregierung seit Jahresbeginn 1997 mit einem Architekten- und Planerwettbewerb beispielhafte Konzepte entwickeln läßt. Der erste Spatenstich dürfte allerdings nicht vor 1999 erfolgen.
Im vergangenen Oktober hatten die beiden zuständigen Ministerien für Stadtentwicklung sowie für Bauen und Wohnen mit einem gemeinsamen Fördererlaß die Kommunen zur Planung zukunftsweisender Siedlungen ohne Auto motiviert. So bekommen interessierte Städte und Gemeinden 80 Prozent der notwendigen Kosten für Planungen und Voruntersuchungen aus der Landeskasse bezahlt. Das münstersche Projekt bietet endlich den überfälligen Anlaß, das Bauordnungsrecht zu entrümpeln. „Wir werden den Stellplatzbedarf in diesen Siedlungen erheblich reduzieren“, kündigte der grüne Bauminister Michael Vesper an. Rechnerisch gesehen sollen danach 0,2 Stellplätze je Wohnung ausreichen, damit die zuständige Bauaufsichtsbehörde den Stempel unter den Bauantrag setzen kann. Voraussetzung für die Genehmigung ist aber, daß Bus- oder Bahnhaltestelle in Nähe der geplanten autofreien Siedlung liegen.
Der Fördererlaß hat der Idee vom autofreien Wohnen in Nordrhein-Westfalen zu neuem Schwung verholfen. „Wir hatten seit der Veröffentlichung etwa 40 Anrufe aus verschiedenen Rathäusern“, lautet die Zwischenbilanz von Ulrike Reutter vom Dortmunder ILS, das die Kommunen fachlich berät. Ein erster Trend lasse sich bereits erkennen: Favorisierten Stadtplaner noch vor Jahren autofreie Siedlungen mit 1.000 und mehr Wohneinheiten, heißt es nun „small is beautiful“. Die Realisierungschancen seien so erheblich größer, lautete der Tenor auf einer ILS-Tagung im Spätherbst.
In dieser Größenordnung denkt auch der Kölner Arbeitskreis Autofreie Siedlung. Sprecher Ralf Herbertz macht sich allerdings keine Illusionen darüber, daß das Einweihungsfest erst nach der Jahrtausendwende gefeiert werden kann: „Solange werden sich die Planungen und der Bau wohl hinziehen.“ Mitverantwortlich für diese Verzögerung ist aber auch Oberstadtdirektor Lothar Ruschmeier. Er lehnte eine Marktanalyse bei potentiellen Käufern und Mietern ab, die Aufschluß über den favorisierten Standort der geplanten Siedlung bringen sollte. Der Stadtentwicklungsausschuß korrigierte mit den Stimmen aller Parteien Mitte Dezember Ruschmeiers Entscheidung. Ralph Herbertz: „Immerhin haben wir jetzt die breite Zustimmung der Politik, was vor zwei Jahren noch nicht der Fall war.“
Von solch politischer und administrativer Unterstützung für das autofreie Wohnen wie zwischen Rhein und Weser kann Ida Schillen demgegenüber nur träumen. Sie ist die baupolitische Sprecherin der bündnisgrünen Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus: „Wir erleben hier ein einziges Desaster.“ Daß ursprüngliche Entwicklungsgebiete für autofreie Siedlungen jüngst unter dem Diktat leerer Kassen von der Großen Koalition unter Eberhard Diepgen gestrichen wurden, ist dabei nur ein Punkt. Stillstand herrscht beim Projekt Alter Schlachthof an der Eldenaer Straße im Bezirk Prenzlauer Berg, wo die erste stadtweite autofreie Siedlung entstehen soll. „Wir haben dort 800 Interessenten, aber die Senatsverwaltung hat noch nicht einmal den Bebauungsplanentwurf fertig“, wettert Schillen. In weite Ferne gerückt ist auch das im Stadtteil Lichterfelde-Süd geplante autofreie Quartier. Auf dem Gelände sollen nun „normale“ Eigentumswohnungen entstehen. Für Felix Beutler, Mitarbeiter in einem Forschungsprojekt Autofreies Wohnen in Berlin an der Technischen Universität, eine unverständliche Entwicklung: „Im Energiekonzept hat sich der Senat eindeutig für den Bau autofreier Siedlungen als Beitrag zum Klimaschutz ausgesprochen.“
Verkehrsforscherin Ulrike Reutter kennt solche Schwierigkeiten zur Genüge. Nicht allein der Neubau autofreier Siedlungen sei ein schwieriges Geschäft, vor allem „die Autos aus bestehenden Quartieren rauszubekommen wird noch mehr Überzeugungsarbeit kosten“. Das heißt nämlich Abschied zu nehmen von altem Besitzstandsdenken. „Daß es keinen Rechtsanspruch auf einen Parkplatz vor der eigenen Haustür gibt, wissen die wenigsten Leute“, sagt Oscar Reutter, der in der Verkehrsabteilung des Wuppertal-Instituts arbeitet. Damit der Übergang zur autofreien Wohnung nicht so krass ausfällt, plädiert er für ein neues Denken. In Acht- Stunden-Intervallen sollen geeignete Straßen stundenweise für den Verkehr gesperrt werden, die von den Autos dann wieder in den Abendstunden befahren werden können. Reutter weiß, daß er mit diesem Vorschlag „so manche Bürgerversammlung kräftig aufwühlen“ wird. R. Köpke
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen