piwik no script img

Die Mordsgeschichten des Zeugen „Siggi“

Siegfried Nonne, wichtigster Belastungszeuge im Fall Christoph Seidler, ersann eine wilde Gruselstory über einen Spitzelmord im Antifa-Milieu. Sie verschwand in Geheimakten. Grund: Gefährdung seiner Glaubwürdigkeit  ■ Von Gerd Rosenkranz

Die militante Szene-Truppe trifft sich spät im Frankfurter Grüneburgpark. Auch Peter Weber, ein Jurastudent, der sich dem linken Politzirkel schon vor einiger Zeit angeschlossen hat, ist dabei. In der Gruppe kursiert der Verdacht, bei Weber handele es sich um einen Polizeispitzel, den die politische Abteilung der Frankfurter Kripo eingeschleust hat. Zur Gruppe gehören auch die später als RAF-Mitglieder gesuchten Christoph Seidler und Andrea Klumpp.

An diesem Abend soll ein Exempel statuiert werden. Der Student wird zur Rede gestellt. Empört wehrt er sich gegen die Vorwürfe. Seidler schmiede ein Komplott gegen ihn, weil er, Weber, sich an dessen Freundin Andrea Klumpp herangemacht habe. Weber verwickelt sich in Widersprüche, legt Teilgeständnisse ab, wird geschlagen und getreten, ehe ihm, schon verletzt, die Flucht gelingt. Der Rest der Gruppe, „eine Einheit voller Wut“, stellt ihm nach, erreicht ihn erneut an einer Haltestelle. Er soll in den Wagen gezerrt werden, der Christoph Seidler gehört, entkommt noch einmal, wird zu Fuß und mit dem Wagen verfolgt.

In einer Nebenstraße der Großen Bockenheimer Straße erfaßt der Wagen, an dessen Steuer Seidler sitzt, Weber auf dem Bürgersteig. Er wird mehrere Male weitergeschleudert, am Ende liegt sein Körper reglos am Straßenrand. Einige flüchten, andere schauen nach: Peter Weber ist tot.

In Panik läuft die Gruppe auseinander, vereinbart aber noch einen Treff für den nächsten Abend, 20.30 Uhr. Die Stimmung einen Tag nach dem Mord ist gedrückt, angstvoll. Niemand will die Verantwortung übernehmen, niemand macht Vorschläge. Am Ende hoffen alle, Webers Tod werde durchgehen als Unfall mit Fahrerflucht. Die Gruppe fürchtet einen Schlag des Staatsschutzes. Sie beseitigt belastende Spuren, darunter auch Diskussionspapiere, die sich mit der Spitzelproblematik auseinandersetzen.

Tatsächlich kommt es zu Razzien in der Szene, doch, merkwürdig, niemand fragt nach Peter Weber. Alle sind froh, noch einmal davongekommen zu sein.

Eine grausige Geschichte aus der antiimperialistischen Szene in Frankfurt Anfang der achtziger Jahre. Ihr Schönheitsfehler: Sie ist erfunden. Den angeblichen Spitzelmord, an dem er selbst beteiligt gewesen sein will, beichtet Siegfried Nonne seinem früheren Führungsbeamten beim hessischen Verfassungsschutz während eines „Waldspaziergangs“ am 12. Juli 1991.

Vier Tage zuvor ist er nach einem stationären Aufenthalt aus der psychiatrischen Abteilung des Waldkrankenhauses Köppern entlassen worden. Der Arztbericht vom 23. Juli 1991 attestiert dem Patienten eine „länger anhaltende depressive Reaktion mit suizidalen Gedanken, Polytoxikomanie inclusive Morphin, Persönlichkeitsstörung auf Borderline-Niveau“.

Eine Woche später hat Nonne (im Vernehmerjargon: „der Siggi“) das dramatische Geschehen auf sechs Seiten handschriftlich fixiert. Überprüfungen ergeben rasch, daß es einen Spitzelmord oder einen vermeintlichen Unfalltod eines V-Mannes in Frankfurt nicht gegeben hat, nicht zu dem von Nonne geschilderten Zeitpunkt und auch zu keinem anderen. Für die Wiesbadener Schlapphüte steht fortan fest: Nonne lügt, oder sein Kopf produziert Mordsgeschichten. Die vom tragischen Ende des Polizeihelfers Peter Weber landet in den Akten.

Doch bei jenem Spaziergang im Juli 1991 ringt sich Nonne noch ein weiteres „Geständnis“ ab. Diese zweite Aussage verschwindet nicht umkommentiert in den Akten. Sie ist mittlerweile hinreichend bekannt, bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe füllt sie ein Dutzend Leitzordner. Nonne versichert, dem RAF-Kommando „Wolfgang Beer“ seine Wohnung als Basislager zur Verfügung gestellt und auch sonst mit allerlei Aktivitäten zur Hand gegangen zu sein. Das Kommando sprengte am 30. November 1989 in Bad Homburg Alfred Herrhausen zu Tode. Zu den Attentätern, erzählt „Siggi“ den in höchstem Maße interessierten Ermittlern, gehörten auch Christoph Seidler und Andrea Klumpp.

In den folgenden Monaten pendelt Nonne zwischen Verhören und Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken. Die Stationen: hessischer Verfassungsschutz, Bundeskriminalamt, Bundesanwaltschaft, Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof. Mit Antidepressiva, Neuroleptika und Antiepileptika, insgesamt neun verschiedenen Medikamenten, halten die Vernehmungsbeamten den kranken Mann einigermaßen im Gleichgewicht. Allen Geschichten, die Nonne erzählt, ist eines gemein: Sie strotzen vor Details.

Nach Peter Weber fragt niemand mehr, auch die 1992 eingeschalteten Glaubwürdigkeitsgutachter beziehen die Phantasiegestalt nicht ernsthaft in ihre Untersuchungen ein. Statt dessen landet das Märchen vom Spitzelmord in Ordnern mit dem Stempel „geheim“.

Auch andere nachweislich erfundene Episoden, die Nonne 1989 und 1990 damaligen Arbeitskolleginnen auftischt, gelangen nie an die Öffentlichkeit. So klagt er über eine Freundin („gutaussehend, blond, langbeinig“), die ihn heimlich um das Erbe seiner Mutter gebracht habe. Sie habe nicht nur das Konto abgeräumt und mit dem Geld „in einer Seitenstraße der Luisenstraße“ in Bad Homburg eine Boutique eröffnet, sondern noch dazu die Möbel aus der gemeinsamen Wohnung mitgehen lassen. Den folgenden Prozeß um das unterschlagene Geld habe er verloren. Dieselbe oder eine andere Freundin, phantasiert Nonne im März 1990 gegenüber einer weiteren Arbeitskollegin, habe sich „mit dem Pkw Mercedes ihres Vaters getötet“. In Wahrheit stimmt nichts von alledem, selbst die Freundinnen sind erfunden.

Doch sogar die Tatsache, daß Nonne 1992 im Fernsehen mitteilt, er sei von Beamten des hessischen Verfassungsschutzes unter mehr oder weniger offenen Todesdrohungen zu seinen Herrhausen- Aussagen gezwungen worden, läßt bei der Bundesanwaltschaft nicht die Alarmglocken schrillen.

Die Rechnung für diese kaum zufällige Ignoranz gegenüber den Eskapaden ihres Kronzeugen präsentiert am 22. November 1996 zunächst der Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof, als er Christoph Seidler, der sich morgens gestellt hat, mangels dringenden Tatverdachts umgehend wieder nach Hause entläßt.

Noch deutlicher werden die Richter des 3. Strafsenats. Die Bewertung der zeitgleich mit der Herrhausen-Aussage vorgetragenen Spitzelmord-Episode, schreibt der BGH-Senat am vergangenen Donnerstag den Anklägern von der Bundesanwaltschaft ins Stammbuch, sei „für die Überprüfung der Glaubwürdigkeit des Zeugen Nonne und der Zuverlässigkeit seiner sonstigen Angaben unverzichtbar“. Außerdem, heißt es in dem Beschluß, der Christoph Seidler für absehbare Zeit die Freiheit garantiert, begründeten schon „zahlreiche und zum Teil nicht nur das Randgeschehen betreffende Widersprüche ... in den unterschiedlichen Vernehmungen des Zeugen erhebliche Zweifel an den Angaben des Belastungszeugen“.

Zur Einordnung dieses Rüffels gehört, daß die Bundesanwaltschaft in ihrer Beschwerde gegen den Freilassungsbeschluß des BGH-Ermittlungsrichters ungerührt die „qualitativ hochwertige Aussage“ des Siggi Nonne feiert. Gleichzeitig rückt sie alle Zeugen, die Seidlers Aufenthalt zur Zeit des Herrhausen-Attentats im Libanon bestätigen, in die Nähe von RAF-Sympathisantentum und Kungelei mit dem Beschuldigten – auch den Verfassungsschützer „Hans Benz“.

Erkennbar wird eine Strategie der Bundesanwaltschaft, die nicht auf Wahrheitsfindung zielt, sondern auf Gesichtswahrung und auf die Diffusion von Verantwortung. Die Belastung Seidlers schieben die Bundesanwälte ihren Gutachtern und dem Bundeskriminalamt zu, die Entlastung sollen nun die Gerichte besorgen. Dafür muß es einen Prozeß gegen Seidler geben, um beinahe jeden Preis, auch den einer Blamage.

„Der Staatsanwalt“, sagt Generalbundesanwalt Kay Nehm mit Blick auf Siegfried Nonne, „kann sich seinen Zeugen nicht aussuchen.“ Richtig. Aber darüber nachdenken, ob einer ein Zeuge ist oder nur ein bedauernswert kranker Mensch, könnte er schon.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen