■ Querspalte: U-Bahn fahren bildet
Ja, U-Bahn fahren bildet. Gerade im Winter, wo man ja ansonsten am liebsten wie meine Mitbewohnerin nur im Bett rumgammeln würde, ist die U-Bahn- Fahrt ein schönes Mittel gegen die Zwangsmechanismen immer befremdlicher Individualisierungen, die nur den Mächtigen nützen. Einerseits kann man sich während langer Fahrten die bizarren Mienenspiele seiner Mitbürger anschauen und sich zum einen oder anderen Geschichten ausdenken, andererseits gibt es in der U-Bahn immer wieder bedenkenswerte Lebensweisheiten zu lesen. Mit dem Satz „Man braucht einen Kopf, damit die Gedanken die Richtung ändern“ wirbt zum Beispiel eine Organisation zur Steigerung der Kinderproduktion („Schwanger – Keine Panik!“) in der Berliner U6 für sich. Oder – am U-Bahnhof- Kiosk – die Familienzeitschrift Family, deren adrette Titelbilderfamilien ein bißchen an die Wachturm-Cover erinnern und die Scheußlichkeiten der einschlägigen „Megatittenblätter“ m.E. glatt in den Schatten stellen, was übrigens nicht frauenfeindlich gemeint sein soll. Am schönsten ist jedoch die aktuelle Bild-Kampagne, die sich intensiv um die Belange ihrer erniedrigten und beleidigten Klientel kümmert: „Der eine hat Kinder. Der andere kriegt die Wohnung – Gerecht?“, „Der eine geht zur Arbeit. Der andere kassiert vom Staat – Gerecht?“ Natürlich ungerecht und unverschämt! Lachend amüsiert sich das kinderlose Arbeitslosenpack. Ohne einen Strich zu tun, verballern die arbeitsscheuen Kreuzberger ihr Arbeitslosengeld. Für Haschisch, Monatskarten und Tütensuppen, wie Freund B., der sich mit 900,– DM im Monat vom Staat aushalten läßt.
Während die einen für Arbeitslosenlager optieren, hat man in Berlin andere Methoden gegen die Nichtstuer entwickelt. Um die Asozialen-Statistik in Kreuzberg zu verbessern (22% Nichtstuer), wird der Bezirk demnächst einfach aufgelöst. Das Bild-PR-Gesindel dürfte für seine klassenkämpferische Werbekampagne übrigens nicht unter 10.000,– DM im Monat kriegen. Detlef Kuhlbrodt
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