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Pianistenträume im Lendenschurz

■ Ulrich Tukur darf in den Kammerspielen „Einmal Casanova sein“ und auf die Leinwand springen

Ein Schritt hinter die Leinwand, und Willi Neumann ist weg. Der Pianist springt direkt in den laufenden Film, um seiner Geliebten Mary beizustehen, die dort zum Traualtar gekarrt wird. Nun trippelt Neumann am Drehort herum und sieht mit pomadig angeklatschten Haaren und schwarzem Anzug so deplaziert aus, wie er sich fühlt. Er gestikuliert den Filmvorführer um Hilfe an – sagen kann er nichts, denn der Streifen ist ein Stummfilm.

Dabei wollte Willi Neumann (Ulrich Tukur) nur Einmal Casanova sein und Mary entführen. Seine Kündigung hat der Pianist bereits in der Tasche, denn nächste Woche ist der Tonfilm da und er damit überflüssig. Mary soll dann den schleimigen Kinobesitzer Otterbeck (Gerhard Garbers) heiraten, der sowieso ein Bandit ist. Das alles verwirrt Neumann, ohnehin Phlegmatiker, ohne Ende.

Für die Zuschauer ist Einmal Casanova sein verwirrend und faszinierend zugleich. Faszinierend deshalb, weil die Kammerspiele fast ganz in die Stimmung der zwanziger und dreißiger Jahre tauchen. „Meidet den Tonfilm! Der Tonfilm wirkt nervenzerrüttend“, ruft ein Plakat im Foyer, wie es der Deutsche Musiker-Verband 1929 veröffentlicht hat. Und nach den ersten Minuten der Aufführung würde man ohne weiteres versprechen, künftig jeden Tonfilm zu ignorieren – vorausgesetzt, man bekäme dafür Stummfilme zu sehen, wie die Kammerspiele sie für Einmal Casanova sein gedreht haben: In verwaschenem Grau, mit umschnörkelten Zwischentiteln und Ulrich Tukur am Klavier ist selbst die Eiswerbung mehr Genuß als Muß. Entstanden sind die Spots, wie die anderen gezeigten Stummfilme, in Zusammenarbeit mit der Hamburger Filmwerkstatt – teilweise in den Räumen des Theaters. So trifft sich die Londoner Halbwelt im Kammerspiele-Café Jerusalem.

Faszinierend ist auch das Timing der Vorstellung: Wenn Neumann sich in einen Film einmischt, springt er exakt in der gleichen Sekunde hinter die Leinwand, in der er darauf erscheint. Als Casanova bewahrt er Mary so vor der Hochzeit mit einem schleimigen Grafen und befreit sie als Tarzan aus Kanibalentöpfen. In Küchenkaros gekleidet spielt er einen Scotland-Yard-Inspektor, der Mary einem Mädchenhändler entreißt.

So weit, so stummgefilmt. Verwirrend ist die Produktion von Ulrich Waller und Ulrich Tukur wegen ihrer Stimmungswechsel. Die Leinwand macht grellen Kulissen Platz. „Tarzan“ Tukur trägt eine blonde Löckchenperücke und schwingt sich, knapp belendenschurzt, am Seil über die Bühne. Im krachengen Korsett und im Rüschenkleid bekreischt Mary (Barbara de Koy) ein Fechtduell – Albernheiten, die entweder mitreißen oder zu dem Satz verleiten: Die spinnen, die Kino-Pianisten. Aber weil Einmal Casanova sein im Kino spielt, darf Willi Neumann so viel spinnen, wie er will – Hauptsache, es gibt ein Happy-End.

Judith Weber

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