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Fünf Monate nach dem Ende des mörderischen Krieges mit Rußland wählen heute in Tschetschenien die Einwohner einen Präsidenten, der sie endgültig aus der Russischen Föderation in die Unabhängigkeit führen soll Aus Grosny Klaus-Helge Donath

Auftrag und Ziel heißen „Itschkeria“

Männer in Tarn- und Kampfanzügen drängeln sich im Wahlkampfstab Schamil Bassajews, Kalaschnikow und Dolch gehören zur Grundausstattung. Nur Bassajew selbst hat die Armeekluft gegen Zivil eingetauscht. Der Brigadegeneral steckt in einem anthrazitfarbenen Anzug, der sitzt wie angegossen, mit Schlips und brauner Pelzmütze, umweht von einem dezenten Odeur. Unter dem Beifall der Kameraden greift ein hochdekorierter Budjonnowsk-Kämpfer zur Gitarre und singt Lieder aus dem unerschöpflichen Landsknechtszyklus „Leben oder Tod“. Auf russisch.

Die Stimmung ist bombig. Nach dem Sieg der tschetschenischen Rebellen über die Russen vor fünf Monaten steht nun ein weiterer an: Bassajews Triumph bei den heutigen Präsidentschaftswahlen. Schamil Bassajew (32), der im Juni 1995 durch die Geiselnahme eines Krankenhauses im südrussischen Budjonnowsk den russischen Aggressor an den Verhandlungstisch zwang, wird in Tschetschenien wie ein Volksheld gefeiert. Beim Nachbarn Rußland steht er auf der Fahndungsliste.

Der ehemalige Computerhändler aus Moskau kämpft unermüdlich. Noch Anfang Januar wollte nur ein Zehntel der Wähler dem Guerillero ihre Stimme geben. Sein aggressiver Wahlkampf in den letzten Wochen ließ die Chancen indes immens steigen. Ein privater Fernsehsender wirbt rund um die Uhr für den Recken, der nicht davor haltmacht, die ehemaligen Kampfgefährten in den Dreck zu ziehen.

Die vier aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten rekrutieren sich ausnahmslos aus federführenden Amtsträgern des Dudajew- Regimes und den legendenumwobenen Feldkommandeuren und Militärs. Im Grunde wollen aber alle mehr oder weniger das gleiche. Sich programmatisch abzuheben fällt schwer, so verfällt man darauf, die persönliche Integrität der Mitbewerber in Zweifel zu ziehen. Kurzum, in Tschetschenien herrscht echter Wahlkampf.

Seinem aussichtsreichsten Herausforderer, Aslan Maskhadow (45), wirft Bassajew vor, in seinem Umfeld einen Haufen von Gaunern und Dieben zu dulden. Auch Amtsinhaber Selimchan Jandarbijew (45), Nachfolger des vor einem Jahr getöteten Dschochar Dudajew, schaltete sich ein: Kommandeur Wachcha Arsanow, der sich als Vizepräsident mit Maskhadow bewirbt, halte in den Bergen russische Gefangene fest, um Lösegelder zu erpressen. An dem Vorwurf mag etwas dran sein, doch geht es weniger ums Geld. Russische Soldaten dienen als Tauschäquivalent, um Tschetschenen aus russischer Gefangenschaft auszulösen. Maskhadow verfiel auf Arsanow, weil der Kommandeur im Gegensatz zu ihm die Bergregionen des Kaukasusfleckens repräsentiert. Zwischen Flachland- und Bergbewohnern herrschen traditionelle Unterschiede, oft Mißtrauen. Meist sind die Bergbewohner konservativer und bei der Durchsetzung ihrer Interessen radikaler.

Keinem Kandidaten fiele es ein, die Unabhängigkeit der Republik „Itschkeria“ in Frage zu stellen. Für alle ist der endgültige Austritt aus dem russischen Staatsverband im Jahre 2001 beschlossene Sache, wenn nicht gar schon besiegelt. Maskhadow will die Amtszeit nutzen, um dafür internationale Garantien zu erhalten. „Niemals darf Rußland wieder das Recht haben, seine konstitutionelle Ordnung hier zu errichten“, meint Maskhadow bei sich zu Hause im Dorf Perwomaiskoje, etwa 20 Kilometer außerhalb Grosnys.

Seit zwei Wochen hat er sich aus dem Wahlkampf zurückgezogen. Er hält sich für populär genug. Zwei Jahre sahen seine Landsleute ihn täglich im Fernsehen: als Kommandeur, der die überlegene Streitmacht der Russen bis zur Weißglut reizte und ihnen mit der Eroberung Grosnys im vergangenen August den Todesstoß versetzte; und überdies als ständigen Unterhändler in den Waffenstillstandsgesprächen mit dem Gegner. Seine ruhige und besonnene Art brachte ihm eine Menge Sympathien ein. Nicht zuletzt auch bei den Russen, die, wenn schon einen tschetschenischen Präsidenten, dann wenigstens Maskhadow auf dem Posten sehen möchten. Die radikalen Gegner nutzen das, um ihn als Wunschkandidaten des Kreml zu diskreditieren. Maskhadow traut den Russen indes nicht über den Weg. Er will sein Volk für immer vor ihnen schützen.

Um gleich im ersten Wahlgang bestätigt zu werden, muß der siegreiche Bewerber die Hälfte aller Stimmen auf sich vereinigen. Schaffen es die übrigen Kandidaten, die absolute Mehrheit Maskhadows zu vereiteln? Mittlerweile könnte es knapp werden. Es scheint den Tschetschenen nicht leichtzufallen, nach dem Krieg eine eindeutige Entscheidung zu treffen. Eigentlich seien alle 14 Anwärter, hört man häufig, des Amtes würdig.

Der Islam stellt zwischen den Bewerbern keinen ernsthaften Streitpunkt dar. Man unterscheidet sich in Nuancen; sollte die Ausrichtung des Staates auf den Islam sofort oder allmählich vorgenommen werden? Der Krieg hat die Bedeutung der Religion, die vorher kaum eine Rolle spielte, indes erheblich in den Vordergrund gedrängt. Wohin das Auge schaut, schmückt ein grünweißes Plakat mit der Aufschrift „islamskij porjadok“, islamische Ordnung, Ruinen und ausgebrannte Fassaden in Grosny. Urheber ist der Präsidentschaftskandidat Mowladi Udugow. Er wirbt für seine Ordnung auf russisch. Nach all dem, was passiert ist? Irritierend, doch auch die anderen Kandidaten buhlen um die Gunst der Wähler im Idiom des ungeliebten Nachbarn. Udugow gilt als der unbestrittene Sieger der Propagandaschlacht im Kaukasuskrieg. Neidisch bekannte Moskaus Führung damals, ein Udugow würde die Arbeit des gesamten russischen Apparates überflüssig machen.

Heute hat der ehemalige Informationsminister ausschließlich die „islamische Ordnung“ auf seine Fahnen gehoben. Noch ist das Terrain für einen islamischen Staat nicht bereitet und Fundamentalismus eher eine Randerscheinung. Der Glaube bietet Halt und Orientierung in einer Zeit, die noch von Gewalt regiert wird. Udugows Islam ähnelt denn auch eher einem Konglomerat aus traditionell tschetschenischer Lebensweise, einem Gewohnheitsrecht und einem Schuß oberflächlicher Gottesfürchtigkeit.

Nicht der Glaube entscheidet die Wahlen, sondern der Wunsch der Tschetschenen, menschenwürdig und auf ihre Weise zu leben. Schamil Bassajew verspricht, mit Kriminalität und Gesetzlosigkeit aufzuräumen. Ihm traut man es auch zu. Andererseits verstehen die Tschetschenen: Jede Stimme für den Geiselnehmer von Budjonnowsk ist eine weitere Demütigung des ohnehin gereizten, übermächtigen Nachbarn.

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