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Die Gleise in die Verkehrszukunft

Viele Vorschläge für ein Schienenverkehrswunder in und um Hamburg  ■ Von Florian Marten

„Hamburg rennt sehenden Auges in den verkehrspolitischen Untergang“ – mit kaum noch steigerbarer Schärfe zog Kongreßleiter Thomas Bütow am Sonntagmorgen sein persönliches Fazit „Zur Zukunft des Schienenverkehrs in der Metropolregion Hamburg“. Zwei Tage lang hatte sich eine ebenso bunt wie hochkarätig besetzte Hundertschaft aus Politikern, Bundesbahnern, Verkehrsverbänden und Initiativen in der Evangelischen Akademie Bad Segeberg mit der Zukunft der Schiene in und um Hamburg befaßt.

Thomas Bütow: „Ich wollte die Experten unterschiedlicher Lager zusammenbringen, damit sie ohne Entscheidungszwang mal wirklich gemeinsam nach vorne gucken.“ Und dort, in der Zukunft, tut sich nach Meinung der Experten ein wahres Schienenwunderland auf: Ob ein neuer Fernbahnhof Sternschanze, dessen vier Fernbahngleise das innerstädtische Schienennadelöhr entscheidend entlasten, oder die Stadtbahn nach Mölln auf Bundesbahnschienen, ob ein flächendeckendes S-Bahnnetz nach Münchener Vorbild oder ein halbstündiger Schienennahverkehrstakt von Niebüll bis Hannover-Langenhagen – die Kreativität der Bahnfreaks kannte kaum Grenzen.

Klaus Nötzold, bis vor kurzem einer der wenigen hochrangigen Paradiesvögel in Diensten der DB, fand Hamburgs Schienenverkehrspolitik nicht nur „schlichtweg zum Kotzen“, er präsentierte auch ein norddeutsches Schienenverkehrskonzept aus einem Guß: Er setzt auf ein flächendeckendes Nahverkehrs-Angebot, welches die bisherige S-Bahn (10-Minuten-Takt) mit einer Regional- und einer Fern-S-Bahn (RS und FS) überlagert.

Dabei sollen RS und FS mit neuen Doppelstockwagen und schnellen Triebwagen einen Tempo- und Qualitätssprung bringen, der ganz Norddeutschland mit einem hocheffizienten Taktverkehrssystem verknüpft. Neben der Anschaffung neuer Fahrzeuge sind dafür gezielte Ausbauten und Streckenelektrifizierungen erforderlich. Nötzold, der Norddeutschlands Bahnlandschaft aus dem Eff-Eff kennt, sieht für sein außerordentlich praxisnahes und detailgenaues Konzept Geld, Technik sowie der politischen Willen in Schleswig-Hol-stein und Niedersachsen längst vorhanden. Die Bremser, so Nötzold, sind Hamburg, die Bahn, die ihre teuren Fernzüge mit dem Nahverkehr subventioniert, und der Bund.

Einen konzeptionell anderen Ansatz verfolgte der altgediente Ingenieur Gert Hagemann. Nach seinen Vorstellungen sollte und könnte sich Hamburg schon in kürzester Zeit nach dem Vorbild von Frankfurt, Stuttgart und München ein flächendeckendes S-Bahn-Netz zulegen, welches die Region von Stade bis Geesthacht, Uelzen bis Elmshorn, LÜbeck bis Cuxhaven umsteigefrei mit einer Zwei-System-S-Bahn verbindet. Hamburgs langsame und teure Gleichstrom-S-Bahn ist unflexibel und in der Streckenverlängerung schlicht unbezahlbar. Hagemann empfiehlt statt dessen die nachträgliche Elektrifizierung von Strecken, die anschließend von Zwei-System-Zügen bedient werden könnten.

Die Euphorie von Hagemann und Nötzold, die als Ersatz für den unpraktischen Bahnhof Altona auch einen Fernbahnhof im Raum Stellingen/Langenfelde ins Gespräch brachten, wurde jedoch jäh zerstört, als Günter Hammermeister, Netzplaner der DB AG verriet, was die Bahn im Norden stattdessen tatsächlich plant: fast nichts. Die Engpässe Lüneburg-Harburg und Pinneberg-Elmshorn werden vorerst nicht ausgebaut. Und auf die Güterzüge aus Skandinavien, die ab Frühjahr über den Großen Belt und Flensburg Richtung Hamburg rollen, ist die Bahn noch überhaupt nicht vorbereitet. Sie glaubt immer noch an die Vogelfluglinie, obwohl diese nach Expertenauffassung schon in wenigen Jahren gänzlich eingestellt werden dürfte.

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