: Er war der letzte der alten Kommunistengarde, politisch dreimal totgesagt, dreimal auferstanden. Deng Xiaoping, jetzt 92jährig gestorben, erzwang in China ein ökonomisches „Bereichert Euch!“ ohne politische Liberalisierung Von Christian Semler
Der rücksichtslose Reformer
Jetzt hat er sich, 92jährig, doch auf den Weg gemacht, um „Marx zu begegnen“, wie es mit einem Anflug von Spiritualität bei den chinesischen Genossen heißt. Marx war im Gegensatz zu Deng kein besonderer Liebhaber des Bridge, was die Verständigung zwischen beiden im Sozialistenhimmel erschweren wird. Auch sonst wird es Probleme geben: Marx glaubte an die „Selbsttätigkeit“ des Proletariats und verabscheute, obwohl persönlich autoritär bis in die Knochen, staatliche Gängelung, den Staat überhaupt. Deng hat immer die Autorität der Zentrale, die geballte Entscheidungsmacht der kommunistischen Parteiführung, verteidigt. Für ihn war die Vorstellung undenkbar, daß die Arbeiter womöglich die Organisation ihres „Werkeltagsleben“ (Marx) in die eigenen Hände nähmen. Die Föderation der „Communes“, der dezentralisierte Nochstaat, der dem späten Marx vorschwebte, war für Deng ein Greuel, Synonym des Chaos.
Vielleicht würde der Alte aber auch die Respektlosigkeit des Newcomers schätzen, seinen scharfen, bäuerlichen Witz („Wer nicht scheißen kann, soll das Örtchen räumen“), nicht zuletzt sein Beharren, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen. Und zu handeln, wenngleich ohne Rücksicht auf Menschenleben. Vielleicht findet sich ein begabter Literat, der uns, die Gunst der Stunde nutzend, mit einer Fortsetzung des satirischen Dialogs „Eine Unterhaltung zwischen Konfuzius und Marx“, den der Philosoph und Mao-Freund Guo Moruo Anfang der 20er Jahre zu Papier brachte, erfreuen wird.
Deng verschied ohne Amt, aber keineswegs machtlos. Vor wichtigen Entscheidungen war er zu konsultieren, das hatte die Parteileitung festgelegt. Eine komfortable Situation: Allzuständigkeit ohne Verantwortung. Scheinbar ist bei seinem Tod alles bestens geregelt. „Der Wind pfeift nicht durch die Burg, keine große Unruhe unter dem Himmel“, wie sie kurz vor und nach Maos Tod herrschte.
Aber das Dengsche Erbe ist von einem tiefen, unheilbaren Widerspruch gekennzeichnet: ökonomische Reform und Öffnung gegenüber der Welt einerseits, politischer Immobilismus andererseits. Kann man dem Volk „Bereichert Euch!“ zurufen und gleichzeitg die Ideale des selbstlosen, opferbereiten, asketischen Kommunisten hochhalten? Kann man die ökonomische Liberalisierung vorantreiben und gleichzeitig gegen die politische Liberalisierung, die „geistige Umweltverschmutzung“, erfolgreich zu Felde ziehen? Deng hatte zwei seiner möglichen Nachfolger, Hu Yaobang und Zhao Ziyang, hintereinander ihres Amtes enthoben, weil sie das politische System der ökonomischen Dynamik anpassen wollten, wenngleich auf autoritäre Weise: mit Beratungsgremien, mit der Hilfe von Fachkompetenz, mit der Trennung von Partei- und Staatsfunktionen, mit rechtsstaatlichen Garantien, mit vorsichtiger Dezentralisierung. Selbst diese vorsichtigen Lösungsversuche sind auf halbem Wege liegengeblieben. Deshalb werden jetzt für ein, zwei Jahre Polit- und Wirtschaftsleben routinemäßig weiterlaufen. Dann werden die Widersprüche aufbrechen. Und der Parteivorsitzende Jiang Zemin wird weder die Nerven noch die Weisheit haben, sie auszugleichen. Dengs Reformprojekt ist auf Sand gebaut.
Dabei war Deng, seiner Herkunft wie seinem Lebensweg nach, alles andere als blind gegenüber der Industriegesellschaft und dem Zickzack des modernen Klassenkampfs. Mit knapp 16 ging er, Sohn eines begüterten Grundbesitzers aus Szechuan, nach Frankreich, als Werkstudent. Mit ihm ging die Hälfte der späteren Führungsgarnitur der chinesischen Kommunisten. Er lernte, als Hilfsarbeiter in Großbetrieben, die französische Arbeiterklasse im Aufruhr kennen. 1923 schloß er sich dem kommunistischen Jugendverband in Frankreich an, von Anfang an ein Organisationstalent mit dem Ehrennamen „Doktor der Vervielfältigung“. Nach sechs Jahren verließ er Frankreich in Richtung Moskau, um an der Sun-Yatsen-Universität Kaderschliff zu erhalten. Rektor war Karl Radek, dessen Wahlspruch „Ironie und Geduld sind die Haupttugenden des bolschewistischen Funktionärs“ dem jungen Deng willkommen gewesen sein muß. In seinem Lebenslauf, den er als Student abfassen mußte, bezeichnet er die „romantische“ Neigung seiner Kinder- und Jugendjahre als Hauptfehler.
Wie sehr der junge Deng den Verlockungen bolschewistischer Arroganz widerstand, zeigt bei seiner Rückkehr nach China. Er hielt sich von den „28 Bolschewiki“ fern, unter deren Leitung der beginnende Partisanenkampf in Südchina um ein Haar gescheitert wäre, trat auf Maos Seite, überstand eine erste Absetzung, schloß sich dem „Langen Marsch“ an, um schließlich nach 1945 einen guten Teil Chinas, darunter seine Heimatprovinz, mit der Partisanenarmee zu erobern. Bei der Proklamation der Volksrepublik durch Mao war er bereits in dessen Nähe zu sehen. Der große Steuermann hielt viel von der „kleinen Kanone“, während er Zhou Enlai, seinen aristokratischen Gefolgsmann und Hauptgehilfen in Staatsgeschäften, verachtete. Die Karriere Dengs wies steil nach oben – von der Heimatprovinz in die „Verbotene Stadt“. Ohne lange zu fackeln, unterstützte er Mao bei der Säuberungsaktion gegen die Intellektuellen, die der Hundert-Blumen- Kampagne des Jahres 1957 folgte. Das hinderte ihn nicht daran, in den 70er Jahren die meisten der damals Gemaßregelten aus der Verbannung zurückzurufen. Auch gegen Maos Projekt zu Ende der 50er Jahre, mit Riesenschritten auf den Kommunismus zuzueilen, scheint er keine Einwendung gehabt zu haben. Er landete schließlich in der Nähe von Liu Shaoqi, der das stalinistisch-sowjetische Modell des sozialistischen Aufbaus favorisierte.
In der Kulturrevolution avancierte Deng zum zweiten Hauptübeltäter nach Liu. Zum zweitenmal gestürzt, setzte er gehorsam den Schandhut auf, nahm die „Fliegerhaltung“ (Kopf nach unten, die Arme hochgestreckt) ein, zog seinen Hörapparat aus dem Ohr und ließ die Schmähungen der Rotgardisten ungehört über sich ergehen. Ganz mochte Mao auf die Dienste des Vielgeschmähten nicht verzichten. Nach 1973 holte er ihn wieder in den zentralen Apparat, damit Stabilität einkehre an der wirtschaftlichen Front.
Im Handumdrehen gelang es Deng, sich die linken Radikalen zum Feind zu machen. Maos Gattin Qiang Qing haßte ihn, weil er sich weigerte, ihre Modellopern zu preisen. Die später als „Viererbande“ gebrandmarkte Fraktion um Qiang Qing fühlte bald, daß Deng Maos Grundlinie, nach der der Klassenkampf im Sozialismus die treibende, alles beherrschende Kraft sein müsse, unterminierte. Sein berümtester Ausspruch „Egal, ob schwarze oder weiße Katze, Hauptsache, sie fängt Mäuse“ interpretierten die linken Radikalen nicht zu Unrecht als Ausdruck einer pragmatischen Politik, die sich nicht darum scherte, ob der „Fachmann“ auch wirklich „rot“ war. 1976, nachdem eine riesige Menschenmenge auf dem Tienanmen-Platz des Todestages von Zhou Enlai gedacht und die „Viererbande“ geschmäht hatte, wurde er ein drittes Mal gestürzt, durfte aber auf Weisung Maos in der Partei bleiben, damit man „beobachten kann, wie er sich künftig verhält“.
Einen knappen Monat nach Maos Tod 1976 war es mit der „Viererbande“ vorbei. Bei der ziemlich einhellig begrüßten Blitzaktion von Polizei und Militär hatte Deng seine Hand noch nicht im Spiel. Ein Jahr später holte ihn die Parteifführung wieder zurück. Dengs Modernisierungsdampfwalze kam in Fahrt.
Er löste die Volkskommunen auf, ging vom System der Zwangsabgaben ab und richtete freie Bauernmärkte ein. Das führte zu einer Explosion der ländlichen Produktivkräfte, allerdings auch zu schroffen Einkommensunterschieden. Großflächig experimentierte er im Süden durch die Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen mit kapitalistischen Systemelementen. Die Wachstumsraten schnellten in die Höhe, allerdings um den Preis einer zunehmend ungleichen Entwicklung zwischen den armen und den reichen Provinzen. Seine Grundthese war und blieb: Man erkennnt den Sozialismus nicht an der Plan-, den Kapitalismus nicht an der Marktwirtschaft. Markt und Plan sind Instrumente der Ökonomie, es kommt darauf an, in welcher Umgebung sie eingesetzt werden. Nur wenn das Lebensniveau kontinuierlich steigt, können sozialistische Elemente in der Ökonomie wachsen. Das kann lange dauern, ist aber ungefährlich, weil die KP Staat, Armee und „Überbau“ kontrolliert.
Deng setze diese Grundlinie gegen den erbitterten Widerstand vieler alter Weggefährten durch. Noch seine letzte Inspektionsreise in den Süden 1992 hatte das einzige Ziel, der ins Stocken geratenen Reform neuen Schwung zu verleihen. Gleichzeitig hat er aber nie einen Zweifel daran gelassen, daß man viermal „festhalten muß“. Festhalten am Marxismus-Leninismus, an den Mao-Zedong-Ideen, an der führenden Rolle der Partei, am Sozialismus. Schriftsteller sollten den sozialistischen Aufbau rühmen, Künstler sich gefälligst als „Ingenieure der Seele“ (Stalin) betätigen. Der Rest sollte Erziehung sein. Mit seiner Charakterisierung der Demokratiebewegung des Frühlings 1989 als konterrevolutionärer Aufruhr hat Deng das Blutbad des Juni antizipiert. Und die auf seinen Befehl hin von Panzern niedergewalzten Pekinger Studenten bezeichnen zugleich das Scheitern seines Lebenswerks.
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