: Schafft die „Volksbespaßungsanstalten“ ab
Die Finanzmisere macht den Öffentlichen Bibliotheken schwer zu schaffen. Allerorts werden Stadtteilbibliotheken geschlossen – in Bremen stehen sechs Einrichtungen vor dem Aus. Bibliotheken graben sich selbst das Wasser ab, wenn sie sich weiter als „Volksbespaßungsanstalten“ verstehen, sagt Prof. Dr. Konrad Umlauf (43) dazu. Der Bibliothekar, Volkswirt und Germanist ist Vorsitzender des Vereins der Bibliothekare an Öffentlichen Bibliotheken in Deutschland. Bevor er 1992 an die Humboldt-Universität (Fachbereich: Bibliothekswissenschaften) wechselte, war er Bibliotheksdirektor in Heilbronn.
taz: Herr Umlauf, die Bibliothekare jammern über die Finanzmisere und geben ihr die Schuld am Desaster der Bibliotheken. Stimmen Sie dieses Klagelied mit an?
Ja. Wenn es den Kommunen gutgeht, stehen die Bibliotheken in der Sonne. Geht es den Kommunen schlecht, trifft es auch die Bibliotheken.
Aber sind die Bibliothekare nicht auch selbst schuld an ihrer Misere? EDV war für sie lange Zeit ein Reizthema, Betriebswirtschaftslehre ein Fremdwort.
Man muß zugeben, daß Bibliothekare lange Zeit tatsächlich zu wenig darüber nachgedacht haben, was sie kosten. Erst jetzt, in den Neunziger Jahren, fängt man an, auf die Kosten zu gucken – und zwar unter den sehr einseitigen Vorzeichen des Sparzwangs. Viele Bibliotheken haben tatsächlich versäumt, vorher von sich aus durchgreifend zu rationalisieren.
Was müssen Bibliotheken tun, um zu überleben?
Bibliotheken müssen endlich anfangen, ein klares Profil zu entwickeln. Sie stehen vor der Alternative, ob sie von allem etwas machen wollen – auf mäßigem Niveau. Oder ob sie auf begrenzten Gebieten Qualität liefern wollen. Wenn eine Bibliothek zum Beispiel die Entscheidung trifft, auf Unterhaltungsliteratur zu verzichten, um mehr als nur 100 CD-ROM anbieten zu können, ist das ein Weg. Diesen Mut haben viele Bibliothekare aber leider nicht.
Und welche Rolle spielt die Schließung von Zweigstellen?
Es gibt Empfehlungen, die besagen, daß der Weg zur nächsten biliothekarischen Einrichtung nicht länger als 15 Minuten dauern sollte. In einer Großstadt muß man natürlich die Verkehrsverbindungen berücksichtigen. Das Bibliotheks-Netz darf hier also ruhig ein bißchen weitmaschiger werden.
Hamburg hat 60 Stadtteilbibliotheken, München kommt mit 55 aus, Bremen liegt mit 32 Filialen deutlich über dem Bundesdurchschnitt. Wieviel Zweigstellen braucht eine Stadt?
Das ist eine poltitische Frage, die fachlich nicht entschieden werden kann. Wenn Bibliotheken auch soziale Funktionen erfüllen sollen, zum Beispiel als Treffpunkte für Jugendliche, muß das Netz natürlich dichter sein. Das ist allerdings auch teuer.
Als Argument für Stadtteilbibliotheken wird immer wieder angeführt, sie würden Kinder zum Lesen verführen.
Dazu würde aber auch die Fahrbibliothek genügen. Wenn es um die gezielte Leseförderung geht, ist eigentlich die Zusammenarbeit mit den Schulen gefragt.
Verlassen wir die Zweigstellen und kommen wir zurück, zu den Möglichkeiten, die Bibliotheken haben um kundenorientierter und billiger zu werden. Lochkarten gehören in Bremen immer noch zum Handwerkszeug. Die Einführung der EDV ist in den 80er Jahren nicht nur am Geld, sondern auch am Protest der Bibliothekare gescheitert.
In den 80er Jahren standen viele Bibliothekare der EDV skeptisch gegenüber.
Haben Sie Rechenexempel parat, was es kostet, wenn eine Bibliothek auf die Einführung von EDV verzichtet?
Ja, man kann davon ausgehen, daß die Bearbeitung eines Buches – das heißt, von der Kaufentscheidung für ein Buch bis es fertig im Regal steht – im Schnitt etwa 50 Mark kostet. Durch die Einführung von EDV kann man diesen Prozeß, der in vielen Fällen ja teurer ist als das Buch, auf zehn Mark senken. Das geht insbesondere dann, wenn die Bibliothek nur noch den Karton mit den Büchern auspackt und noch einmal mit dem Scanner über den Buchrücken fährt. Die gesamte Bearbeitung – vom Einbinden in die Folie bis hin zum Signaturschild – muß als fertige Leistung bei entsprechenden Firmen eingekauft werden.
Ein anderer Bereich, der die Bibliotheken teuer zu stehen kommt, ist die Katalogisierung. Die Katalogisierung eines einzigen Buches kostet – je nach Bibliotheksart und Arbeitsweise – zwischen zehn und 20 Mark. Bei der Deutschen Bibliothek in Frankfurt, die jedes in Deutschland erscheinende Buch registriert und katalogisiert, können die Bibliotheken fertige Karteikarten, Magnetbänder, Disketten oder CD-ROM mit den Daten für ihre Kataloge bestellen. Außerdem gibt es die Einkaufszentrale für Öffentliche Bibliotheken in Reutlingen. Ist es für die Bibliotheken nicht wesentlich billiger, die Daten für die Kataloge dort zu bestellen?
Das ist sogar sehr viel billiger: Genau dasselbe Katalogisat (Anmerk. d. Red.: Katalogkarte, Datensatz) , daß die Bibliotheken im Schnitt 15 Mark kostet, gibt es bei der Einkaufszentrale in Reutlingen für eine Mark oder 1,50 Mark. Und das sind die Relationen die man sich vor Augen halten muß.
Trotzdem leisten sich viele Bibliotheken noch immer eigene Katalogisierungsabteilungen, zum Beispiel, um die Daten aus Frankfurt umzuschreiben.
Das halte ich für Steuermittelverschwendung. Es gibt keinen Grund für Bibliotheken diese Daten zu verändern.
Die Stadtbibliothek in Bremen rechtfertigt ihre Katalogisierungsabteilung unter anderem mit dem Argument, daß die Daten aus Frankfurt nicht schnell genug geliefert würden. Aktuelle Titel könnten erst nach ungefähr sechs Monaten in die Regale gestellt werden.
Mir sind andere Zahlen bekannt. Bei der Deutschen Bibliothek sieht es etwa so aus, daß man 30.000 bis 40.000 Titelmeldungen einige Wochen vor dem Erscheinen abrufen kann. Es mag natürlich sein, daß die Bibliothek in dem einen oder anderen Fall einen Titel kauft der sich nicht unter den vorab gelieferten Daten befindet. Das ist vielleicht in fünf bis zehn Prozent der Fälle so.
In vielen Städten hat man versucht, die Finanzlöcher im Bibliotheks-Etat mit Benutzergebühren zu stopfen?
Benutzergebühren widersprechen dem Grundgedanken der öffentlichen Bibliotheken und der Bibliotheken überhaupt. Nun muß man sehen, daß Benutzergebühren in einigen Städten gegen den Widerstand der Bibliothekare eingeführt wurden. Es gibt ganz schlimme Erfahrungen mit Benutzergebühren. In einigen Bibliotheken sind die Benutzerzahlen um 70 Prozent zurückgegangen – vorallem in den neuen Bundesländern hat man beobachtet, daß die Gebühren die Zahlen der Benutzer in den Keller treiben. Es gibt aber auch Beispiele von Bibliotheken, in denen die Benutzergebühren keinen Schaden angerichtet haben. Wenn man das beobachtet, gibt es kein Argument mehr gegen Benutzungsgebühren. Bevölkerungsgruppen, denen man die Gebühr nicht zumuten kann, wie zum Beispiel Kinder- und Jugendliche oder Sozialhilfeempfänger müssen aber von vorneherein ausgenommen sein.
Wenn die Bibliotheken so durchrationalisiert werden, müßten dann nicht etliche Bibliothekare ihren Hut nehmen?
Ich glaube nicht, daß man Personal entlassen müßte. Die Aufgaben der Bibliothekare würden sich nur verändern. Anstatt darüber zu brüten, ob nun dieses oder jenes Buch das richtige für den Leser ist, müssen sie sich auf die Beratung konzentrieren. Nehmen wir z.B. eine Erwerbungsabteilung mit fünf oder sechs Bibliothekaren, die darüber zu entscheiden hat, ob nun das eine Buch für 30 Mark oder das andere Buch zum selben Preis gekauft wird. Der Etat ist knapp – beide Bücher kann man sich nicht leisten. Wenn diese Bibliothekare nur fünf Minuten darüber diskutieren, welches Buch angeschafft werden soll, haben sie soviel Personalkosten ausgegeben, daß sie beide Bücher kaufen könnten.
Bibliothekare sollen sich also auf die Beratung konzentrieren?
Ja. Ich habe eine Untersuchung darüber angestellt, wieviel Personalkapazität die Öffentlichen Bibliotheken in den Publikumsverkehr stecken. 20 Prozent der Personalkapazität steht wegen Krankheit oder Urlaub nicht zur Verfügung. Von den verbleibenden 80 Prozent stecken die Bibliotheken durchschnittlich 30 Prozent ihrer gesamten Arbeitskapazität in den Publikumsverkehr. Das ist wenig. Eine Bibliothek, die nicht wenigstens 50 Prozent in die Beratung steckt, hat keinen Grund, sich über Personalknappheit zu beschweren.
Und wenn die Bibliothekare diese Ratschläge in den Wind schlagen?
Ich habe das Gefühl, daß im Berufsstand mittlerweile ein frischer Wind aus der richtigen Richtung weht – ansonsten laufen die Bibliotheken Gefahr, sich selbst das Wasser abzugraben.
Interview: Kerstin Schneider
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