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Ein Amerikaner in Ostberlin

Gesichter der Großstadt: Der linke US-Soldat Steven Wechsler flüchtete in den fünfziger Jahren in die DDR und wurde dort zu Victor Grossmann  ■ Von Heike Blümner

Zwei Namen stehen auf Victor Grossmanns Klingel an der Tür des Plattenbaus nahe des Alexanderplatzes: Grossmann und Wechsler. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, doch Grossmann wohnt nicht mit Herrn oder Frau Wechsler zusammen, nein er ist Victor Grossmann und Steven Wechsler – in einer Person.

New York, Kennedy-Flughafen im Jahre 1994: Vier US-Militärangehörige in Zivil sind gekommen, um Steven Wechsler, gerade aus Berlin gelandet, in Empfang zu nehmen. Sie fahren mit ihm nach New Jersey zu einem Armeestützpunkt, wo nach 43 Jahren seine Entlassung aus der Armee besiegelt wird. 43 Jahre, von denen Steven Wechsler die meiste Zeit in der DDR als politischer Flüchtling verbrachte und in denen die amerikanischen Behörden ein über tausend Seiten langes Dossier über ihn angelegt hatten.

Wenn Victor Grossmann, so nennt er sich in Deutschland immer noch, heute aus seinem Leben erzählt, dann mit einer Detailgenauigkeit, als wäre alles erst gestern passiert. Der freundliche 68jährige Mann mit den Lachfalten erzählt mit ausladenden Gesten und strahlenden Augen. Ernst wird er erst, wenn er sich an jenen Tag erinnert, an dem er zum ersten Mal nach über vierzig Jahren in seine „Heimat“, wie er die USA auch nach so langer Zeit noch nennt, zurückkehrt. „Ich hatte ein sehr mulmiges Gefühl, als ich die Ausläufer von New York aus dem Flugzeug heraus sah.“

In New York verbrachte Grossmann seine Kindheit und Jugend. Er ist Sohn einer jüdischen Kunsthändlerfamilie, aber es ist weniger das linksliberale Elternhaus, das sein politisches Interesse weckt, sondern die allgemeine Stimmung der dreißiger und vierziger Jahre in New York: „New York war eine linke Stadt, in einer linken Zeit, alle Leute waren mindestens für Roosevelt oder standen noch weiter links“, erinnert er sich. Der „Haß gegen Hitler“ und sein Interesse für die amerikanische Gewerkschaftsbewegung prägen Grossmann, er wird Kommunist.

Als er 1951 zur Armee eingezogen wird, ist er ein Arbeiter mit Harvard-Abschluß und Mitglied mehrerer kommunistischer Organisationen. Doch links zu sein ist in Amerika schon lange nicht mehr en vogue. Bei der Armee bekamen alle Soldaten eine Liste vorgelegt, auf der mehr als hundert politische Organisationen aufgezählt wurden, die meisten waren linke. „Wir sollten unterschreiben, daß wir noch nie in einer dieser Organisationen Mitglied waren. Ich war in zehn davon aktiv gewesen, aber ich unterschrieb trotzdem, ich hatte Angst vor dem Gefängnis.“

Etwas mehr als ein Jahr später fliegt der Schwindel auf, Grossmann ist in Bayern stationiert und bekommt eine Vorladung von den amerikanischen Behörden. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion schwimmt er in Wien durch die Donau und liefert sich den sowjetischen Soldaten aus und landet schließlich als politischer Flüchtling in der DDR.

Zwei Jahre arbeitet er in Bautzen als Transportarbeiter in einem Waggonbetrieb. Dort heiratet er seine Frau Renate: „Sie hat mich vor dem Heimweh gerettet“, sagt er immer noch zärtlich. Später studiert er Journalismus in Leipzig und landet in Berlin als Redakteur beim „German Democratic Report“, einer Zeitung, die sich vor allem der Enttarnung hochrangiger BRD-Beamter mit Nazi-Vergangenheit widmet.

Als die Mauer gebaut wird, findet Grossmann das zwar „traurig, aber ich hatte keine Verwandten im Westen, ich war für die DDR, und vor allem fühlte ich mich zum ersten Mal wieder sicher.“ Er schreibt mehrere Bücher über die USA und hält Vorträge: „Ich vermied den Parteijargon, fand die Medienpolitik der DDR ehrlich gesagt beschissen, aber ich glaubte, daß die DDR sozial die besseren Antworten hatte als die BRD und die USA, auch wenn uns viele Freiheiten fehlten“, lautet seine Einschätzung.

Von seinem mit Bücherregalen vollgestellten Wohnzimmer blickt er heute auf die Coca-Cola-Reklame am Haus gegenüber und seufzt: „Ich bin da angekommen, wo ich angefangen habe, you can run, but you can't hide.“ Als er 1994 zum Harvard-Absolvententreffen in die USA fliegt, stellt er fest, daß aus seinen Genossen von damals staatstreue, amerikanische Bürger geworden sind, die an seiner Geschichte nicht übermäßig interessiert sind, „die waren zu sophisticated“. Trotzdem schreibt er für einen amerikanischen Verlag derzeit seine Autobiographie, und es klingt weniger verstaubt als munter, wenn Victor Grossmann verkündet: „Ich kämpfe weiter!“

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