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Die letzten Geheimnisse lüften

Pharmakonzern Schering eröffnet im Herbst ein neues Institut, um das menschliche Erbmaterial zu entschlüsseln. Genomforschung als weltweite Konkurrenz um neue Medikamente  ■ Von Hannes Koch

Berlin entwickelt sich mehr und mehr zu einem Zentrum der umstrittenen Genomforschung in der Bundesrepublik. Im Herbst diesen Jahres will der Pharmakonzern Schering ein neues Institut für die Entschlüsselung des menschlichen Erbmaterials eröffnen. Die Forschungseinrichtung soll die Entwicklung neuer Arzneimittel vorantreiben. Möglicher Name des in Dahlem ansässigen Instituts: „Megagen“.

Großer Name, hoher Anspruch. Der Konzern wolle dazu beitragen, eine komplette „Bibliothek des menschlichen Erbgutes aufzubauen“, erklärte Unternehmens- Vorstand Günter Stock kürzlich. Das Ziel der ForscherInnen ist es dabei besonders, hormonabhängigen Tumorerkrankungen wie Prostata- und Brustkrebs auf die Spur zu kommen.

Man ist auf der Suche nach Genen, die für die Produktion krebsfördernder Hormone verantwortlich sind. Neue Medikamente sollen diese Hormone dann blockieren und damit den Erkrankungen Einhalt gebieten.

Schering plant, die Grundfinanzierung des neuen Genominstituts zunächst vollständig aus eigenen Mitteln zu bestreiten. Für einzelne Forschungsprojekte will man jedoch die Töpfe von Bundesforschungsminister Jürgen Rüttgers (CDU) anzapfen. Nach Informationen der taz ist ein Geschäftsführer bereits gefunden: Professor André Rosenthal, zur Zeit noch Abteilungsleiter beim Institut für Molekulare Biotechnologie in Jena. Wie andere Pharmakonzerne auch klinkt Schering sich damit in das weltweite „Human Genom Projekt“ ein. Der weltweite Forschungsverbund startete vor Jahren durch eine US-amerikanische Initiative, wird heute aber auch von WissenschaftlerInnen in Japan, Frankreich, der Bundesrepublik und anderen reichen Ländern getragen. Sämtliche rund 100.000 Gene der DNA sollen identifiziert und in ihrer Wirkung beschrieben werden. Forschungsminister Rüttgers legte 1995 ein Programm auf, für das 400 Millionen Mark zur Verfügung gestellt werden, um bundesdeutschen Unternehmen gewinnträchtige Patente und damit den Umsatz auf dem Pharmamarkt der Zukunft zu sichern. Die zentrale Einrichtung des bundesdeutschen Genomprojekts sitzt ebenfalls an der Spree. Rolf Zettl, Geschäftsführer des sogenannten „Ressourcenzentrums“ unweit der Puls-Klinik in Charlottenburg, dirigiert 55 MitarbeiterInnen und vier Roboter. Das Zentrum arbeitet wie ein Copy-Shop mit angeschlossener Bibliothek – nur, daß es sich bei dem vervielfältigten und gesammelten Informationen um Erbmaterial von Menschen, Tieren und Pflanzen handelt.

Das Zentrum nimmt standartisiertes Erbmaterial zum Beispiel aus den Laboratorien von Los Alamos in den Vereinigten Staaten in Empfang. Früher brachte die dortige Atomforschungsanlage die Atombombe hervor – heute steht auch die Genforschung auf dem Programm. Die US-Wissenschaftler verschicken einheitliches Erbmaterial in die ganze Welt, damit die globale Forschung auf einer identischen Basis arbeitet. Das macht die Forschungsergebnisse vergleichbar.

Auf diese Art sind in Berlin mittlerweile „rund 80 Genbibliotheken“ zusammengekommen, wie Rolf Zettl berichtet. „Sie enthalten Erbmaterial von der Maus, der Fruchtfliege oder alle menschlichen Gene, die die Prozesse in der Leber bestimmen.“

In den Räumen des Ressourcenzentrums stehen vier stahlgerahmte Glasschränke: In ihrem Innern tunkt der Roboterarm seinen Fühler in die Probe aus Erbmaterial, die vervielfältigt werden soll. Mit dem anhaftenden Tröpfchen benetzt die Maschine Plättchen aus Nylonfolie. 20, 50, 1.000 – je nachdem, wie viele Kopien die GenforscherInnen in den 50 Projekten des bundesdeutschen Genomprojektes gerade brauchen. Bis zum Jahr 2005 will die weltweite Gengemeinde die vollständige Bibliothek des menschlichen Erbmaterials zusammengestellt haben.

Aber das ist erst der Anfang. Die Wirkungsweise der ursprünglichen Bausteine des Lebens und ihrer Proteine, die die chemischen Vorgänge im Körper steuern, sind dann noch lange nicht bekannt. Von der Entwicklung von Medikamenten ganz abgesehen.

Die KritikerInnen freilich betrachten die angehende wirtschaftliche Verwertung der letzten Geheimnisse des Körpers schon heute mit großer Skepsis. Für Sabine Riewenherm von Gen-ethischen Netzwerk in Neukölln geht die gesamte Forschung in die falsche Richtung.

„Die Gene bestimmen nicht alles“, sagt die Biologin. Streß, Gifte in der Luft und schlechte Ernährung infolge von Armut seien wichtige Bedingungen, die den Ausbruch zum Beispiel einer Krebserkrankung fördern könnten. Die Pharmakonzerne böten gentechnisch erzeugte Medikamente als „einfache Lösung“ an, so Sabine Riewenherm, und reduzierten damit die Komplexität medizinischer Zusammenhänge in fataler Weise.

Die Entschlüsselung der Gene, heute oft als wert- und verwertungsfreie Grundlagenforschung zum Wohle der Menschheit charakterisiert, könnte im übrigen bald die Basis liefern für die Ausgrenzung von Menschen aus der sozialen Sicherung und dem Arbeitsmarkt. Schon heute nehmen private Krankenversicherungen in den USA manche Leute nicht mehr auf, weil diese angeblich eine genetische Veranlagung für Krankheiten mit sich herumtrügen. Aus demselben Grund haben Industriebetriebe Bewerbern und Bewerberinnen bereits die Anstellung versagt.

Berlin verzeichnet mittlerweile eine Ballung größerer Einrichtung der Genomforschung. Neben dem neuen Schering- Institut sitzt in der Ihnestraße das Max- Planck-Institut für molekulare Genetik, dessen Chef Hans Lehrach dem weltweiten Leitungsgremium des Human Genom Projekts angehört.

Auch das Max-Dellbrück-Centrum im Bezirk Buch beteiligt sich an der Genomanalyse. Hinzu kommen einige kleinere Firmen, die von früheren Institutsmitarbeitern ausgegründet wurden.

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