: Der Castor, das Augenmaß und das Zeichensetzen Von Wiglaf Droste
Die spezifische Dummheit der Deutschen, schrieb Sebastian Haffner 1940, bestehe weniger in einem Mangel an Verstand als vielmehr in einem Übermaß an Emotion. Wie wahr und wie gültig das ist, ließ sich anläßlich des Castor- Atommülltransports und seiner Begleitmusik feststellen.
Es sei schön im Gorlebener Hüttenlager, sagte ein Anti-Atom- Protestant in eine Fernsehkamera hinein; man könne dort „gemeinsam über seine Ängste reden“. Er sagte das sehr ernsthaft, und der Gedanke, daß er politisch motivierten Protest auf die Ebene von therapeutischem Schischi herabdrücke, beziehungsweise daß er umgekehrt sich und den Seinen das offenbar erhöhte Bedürfnis nach Erlösung, nach Seelsorge mit Anfassen als politische Äußerung hochstilisiere und golden anpinsele, wäre ihm ebensowenig gekommen wie irgendein anderer. Er fühlte sich wohl mit sich und seinem Milieu, und das war mehr, als er sonst über sich sagen konnte; es war ihm genug.
„Wir wollen ein Zeichen setzen“, rief eine Demonstrantin bewegt ihren Mitdemonstrantinnen und Mitdemonstranten zu. Dann setzten sie sich mit ihren Hintern gemeinschaftlich auf die Straße und damit ein Zeichen. Sie waren glücklich dabei, das konnte man sehen; in ihren Augen schimmerte die Sorte innerer Durchdrungenheit, die man bei Kirchentagen und ökumenischen Feldgottesdiensten beobachten kann. Ihr Glück hätte nur gesteigert werden können durch eine Horde auf sie losgelassener hungriger Löwen.
Nachdem die Bundesrepublik Deutschland mit der größten paramilitärischen Aktion ihrer Geschichte ihr Ziel durchgedrückt hatte, sprachen die, die sich für die Gegner hielten, von „einem Erfolg“ und ließen sich den von der Gegenseite ebenso bescheinigen wie von der Polizei gute Zensuren geben. „Man hat eine Niederlage erlitten. Man ist so verprügelt worden, wie seit langer Zeit keine Partei (...) Nun ist mit eiserner Energie Selbsteinkehr am Platze. Nun muß, auf die lächerliche Gefahr hin, daß das ausgebeutet wird, eine Selbstkritik vorgenommen werden (...) Nun muß – ich auch! ich auch! – gesagt werden: Das haben wir falsch gemacht, und das und das – und hier haben wir versagt. Und nicht nur: die anderen haben ... sondern: wir alle haben“, schrieb Kurt Tucholsky am 15. Dezember 1935 an Arnold Zweig. Seitdem hat sich im linken Milieu nichts Wesentliches geändert; das wechselseitige Klopfen der Schultern in der Niederlage, die Schönfärberei, das psychosoziale Betutteln und das Einanderindietaschelügen ist Programm. Und so ist die deutsche Linke respektive das, was von ihr übrig blieb, längst ein Teil des Grauens, das zu bekämpfen sie noch immer tapfer vorgibt.
Grund zum Selbstlob hatte indes die Polizei und bescheinigte sich selbst entsprechend, „mit Augenmaß“ gehandelt zu haben. Man kennt dieses Augenmaß sehr genau: Der Polizeibeamte faßt den Schlagstock noch einmal fest und überprüft mit der Routine eines Handwerkers, wie der auszuführende Schlag am effektivsten anzubringen ist.
Die Deutschen bei ihrem Marsch in die geistige Umnachtung zu beobachten, war einmal die Aufgabe ihrer Kritiker. Sie ist abgeschlossen: Die Deutschen ausnahmslos aller Fraktionen sind an ihrem Ziel angekommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen