: "Bald südfranzösische Verhältnisse"
■ Die Flüchtlingspolitik verliert an Aufmerksamkeit, bemängelt Eckhardt Barthel (SPD). Kritik an Parteifreundin Ingrid Stahmer: Die Jugendsenatorin verstoße gegen das Kindeswohl. Koalitionsblockade bei Mi
taz: In der Politik gegenüber Nichtdeutschen sind die Akzente klar verteilt: Die CDU will Flüchtlinge möglichst abschieben und für MigrantInnen wenig Geld ausgeben. Die Bündnisgrünen und die PDS befürworten Integrationsprogramme. Und die SPD beschränkt sich darauf, zwischen diesen Polen zu vermitteln?
Eckhardt Barthel: Ich vermisse auch bei der Opposition die großen integrationspolitischen Entwürfe. Unsere Schwerpunkte sind, das Staatsbürgerschaftsrecht zu ändern und ein Antidiskriminierungsgesetz zu verabschieden. Wir wollen auch Zugangsmöglichkeiten für MigrantInnen in den öffentlichen Dienst. Außerdem sind unserer Meinung nach die Öffnung der sozialen Dienste für ältere MigrantInnen und eine europaeinheitliche Asylgesetzgebung nötig, die nicht eine Vereinheitlichung der schwächsten Standards sein sollte.
In der parlamentarischen Arbeit sind diese Schwerpunkte kaum sichtbar. Der einzige Antrag, den Ihre Partei gemeinsam mit der CDU in den Ausländerausschuß einbrachte, zielt auf erkennungsdienstliche Maßnahmen gegenüber Flüchtlingen.
Eine Koalition funktioniert so, daß beide Partner sich um Konsens bemühen. Das ist in der Migranten- und Flüchtlingspolitik besonders schwer, weil die Kontroversen hier stark ausgeprägt sind. Vor den Ausschußsitzungen führen wir lange, zum Teil harte Gespräche mit der CDU, um sie über Änderungsanträge zu den Anträgen der Opposition mit ins Boot zu nehmen. Mehrere SPD-Anträge, etwa die erleichterte Einbürgerung, liegen seit Monaten unbearbeitet beim Koalitionspartner.
Warum fordern Sie nicht offensiver die Umsetzung der Koalitionsvereinbarung ein? Die trägt doch weitgehend die Handschrift Ihrer Partei.
Bei positiver Interpretation der Koalitionsvereinbarung stehen Forderungen wie Ausbildungsmöglichkeiten für junge Flüchtlinge oder die Ausnutzung der Ermessensspielräume der Ausländerbehörde zugunsten der Betroffenen tatsächlich aus. Wir vertreten aber ein Politikfeld, das sich gegenwärtig leider auf Abwehr und nicht im Angriff befindet. Wir müssen aufpassen, daß dieses Thema nicht zur Einfallspforte in eine andere Republik wird. Ich habe manchmal den Eindruck, daß wir auf südfranzösische Verhältnisse zusteuern.
Die SPD-Jugendsenatorin Stahmer hat die Senatsvorlage unterschrieben, mit der die Zahl der minderjährigen Flüchtlinge verringert und Kompetenzen von Verwaltungsgerichten auf Jugendamtsmitarbeiter verlagert werden. Wie vereinbart sich das mit sozialdemokratischen Positionen?
Hier werden sozialdemokratische Ansätze wie die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit von Klagewegen und die Priorität des Kindeswohls gegenüber asylrechtlichen Entscheidungen mißachtet. Die Abschiebung von Minderjährigen, ohne daß nach deren Ankunft im Herkunfstland eine Betreuung gewährleistet ist, verstößt gegen die Koalitionsvereinbarung. Solche Regelungen kamen leider zustande, weil andere Bundesländer sich unsolidarisch verhielten. Gegenwärtig tragen Berlin und Hamburg die Kosten weitgehend allein.
Kann sich Berlin spezielle Arbeitsmarktprogramme für MigrantInnen und Flüchtlinge leisten?
Berlin müßte es sich angesichts einer Arbeitslosenquote von über 30 Prozent unter nichtdeutschen BerlinerInnen leisten, kann es aber nicht. Ich bin schon froh, daß in Programme der Senatsverwaltung für Arbeit und Frauen MigrantInnen integriert sind. Viele, vor allem Flüchtlinge, bleiben aber auf der Strecke.
Folgen Sie der Position Barbara Johns, die Visum- und Aufenthaltsgenehmigungspflicht für Kinder aus den traditionellen Anwerbestaaten fördere die Integration dieser Kinder?
Die Integration würde viel stärker gefördert, wenn hier geborene Kinder von Eltern mit gefestigtem Aufenthaltsstatus automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit erhielten. Das fordert unsere Partei. Die Äußerungen von Frau John zielen hingegen auf eine ganz spezielle Gruppe türkischer Eltern, die ihre Kinder in der Türkei erziehen lassen, weil sie westliche, liberale, laizistische Werte für die Erziehung ihrer Kinder ablehnen. Diese Kinder werden oft erst nach Deutschland geholt, wenn sie 15 sind. Die Eltern tun ihren Kindern damit keinen Gefallen. Wenn die neue Verordnung dazu führt, daß diese Kinder früher kommen – was rein spekulativ ist –, dann fördert sie die Integration.
Das heißt doch aber, Sie wollen erzieherische Ziele mit innenpolitischen Maßnahmen durchsetzen.
Nicht erzieherische, sondern integrative Ziele, aber natürlich wäre eine Integration in das hiesige Erziehungssystem eingeschlossen. Ich wünsche mir, diese Kinder würden schon Kitas in Berlin besuchen.
Das ist die Umkehrung eines aufklärerischen Prinzips.
Dahin lasse ich mich nicht drängen. Die Diskussion wird viel zu verkrampft und emotional geführt. Der Antrag, mit dem Berlin in den Bundesrat geht, zielt ja darauf, daß eine zu kleine Wohnung und ein zu geringes Einkommen kein Hindernis für die Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen sein dürfen. Interview: Marina Mai
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