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Mitternacht in Mitte

Der Messetip für zugereiste In- und Ausländer, Ruinenbesichtigung und preiswerte Promille inbegriffen: Eine nächtliche Reise durch die Welt der Bars in der Mitte Berlins  ■ Von Christine Berger

Manche Menschen lieben fettige Pommes, Spaghetti aus der Mikrowelle und abgestandenen Kaffee. Besonders nachts und besonders in der Oranienburger Straße. Dort, wo sich Huren, Hausbesitzer und -besetzer in friedvoller Koexistenz die Zeit vertreiben, macht der Imbiß am westlichen Ende der Straße ein gutes Geschäft. Technokids in abgerissenenem Zustand treffen hier auf Lehrer aus der Pfalz, irische Bauarbeiter und einheimische Nachtschwärmer.

Für Zugereiste mag das Essen vom Pappteller eine Mutprobe sein. Eine Kontaktbörse ist der Laden allemal, und wer um drei Uhr nachts noch wissen will, „wo noch was los ist“, wird hier schlauer. Im akustischen Schatten der Spielautomaten geben Insider willig Auskunft und versuchen sich in den Geschmack des Ortsunkundigen hineinzuversetzen. Schließlich sind die Geschmäcker verschieden: Wo für den einen „was los“ ist, gähnt ein anderer. Dann hat die Reise durch die Nacht bald ein Ende.

Doch wo beginnen? Der Trip für Bildungsbürger beginnt in der Regel mit der Besichtigung einer Burgruine. Man steigt einen Berg hinauf, windet sich auf einem schmalen Treppenhaus bis zu einer Aussichtsplattform und genießt die Aussicht. Das Tacheles ist zwar mehr Ruine als Burg, doch zum Besteigen eignet es sich allemal, und wer im zweiten Stock angekommen ist, darf sogar mit Verpflegung rechnen.

Die Kinobar bietet neben einem Blick durch schießschartenartige Fenster preiswertes Bier aus der Flasche und Mobiliar zum Verschnaufen. Die Bilder an den Wänden zeugen von der Leidenschaft für Acryl und der Absage an die gedeckten Farben verblichener Malerkollegen. Die Burgfräuleins hinter dem Tresen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Sie unterlegen den Abend lieber mit Techno-Trance-Tönen als mit frohen Gesängen. Sinn für Traditionen sucht man hier vergeblich, in der Künstlerhochburg schätzt man eher das Zukünftige und hilft mit, daß es Gestalt annimmt.

Auf der Suche nach der nächsten Raststatt bummeln Nachtschwärmer am besten auf Schusters Rappen. Die Wege zwischen den einzelnen Stationen sind kurz, und die Qual der Wahl ist omnipräsent: Wo den nächsten Einkehrschwung üben?

Samstagnachts ist allein das Platzangebot entscheidend. Wo noch ein freier Stuhl oder wenigstens ein Stehplatz existiert, wird das Bier schon schmecken. Es sei denn, man landet im Oscar Wilde, einem Pub mit authentischem Bölkstoff von der Grünen Insel. Hier verstehen die Zapfer hinter dem importierten Tresen Englisch und Irisch und auch ein bißchen Deutsch. Ham and eggs landen laut polternd auf den zahlreichen Tischen, dünnes Bier, Guinness und Cider fließen in Strömen. Die Luft, zum Schneiden dick, wird durch ein paar gröhlende Sänger in der Ecke bedrohlich sauerstoffarm. Man möchte ihnen den Mund zuhalten, aber schließlich ist man ja nur Gast und fühlt sich ein bißchen fremd unter so viel Inselvolk.

Wieder draußen erscheint die Luft so frisch wie vor einer Berghütte in 2.000 Meter Höhe. Was naheliegt: tief Luft holen und weiterwandern. Am Horizont blinkt der Fernsehturm, und man folgt ein bißchen paralysiert dem Fixpunkt am Ende der Oranienburger Straße. Vor dem Astor schließlich wird der Blick auf eine kleine Menschenmenge mit Spitztüten in der Hand gelenkt. Hier gibt's Fish and chips aus handgeschnittenen Kartoffeln. Wer Appetit verspürt, sollte seine Vorurteile gegenüber englischer Eßkultur überwinden und eine Portion ordern. Und man kann getrost etwas Unenglisches zum Trinken bestellen: Ein Glas Chianti hat noch keiner Kartoffel geschadet.

Gestärkt geht es wieder auf die Piste. Ein paar Häuser weiter lagert die aktionsgalerie am Wegesrand. Was mittlerweile viele Bars kopieren, hat hier seinen Ursprung. Wände, die per Diaprojektor in Bewegung gehalten werden, gehören zum Interieur wie die alkoholhaltigen Flaschen, die mangels Regal auf einem Mauervorsprung die Stellung halten. Wer nicht weiß, wohin er schauen soll, glotzt ins Aquarium und sieht den Goldfischen beim Rudern zu. Für Daiquiri und Tequila ist die aktionsgalerie eine preiswerte Adresse, und die Gläser werden mehr als großzügig gefüllt.

Ausstellungen gibt es ab und an in den Kellerräumen unter der Bar, und solange man noch die Gewerbemieten bezahlen kann, tun die Galeristen alles, um die Gegend artgerecht in Schwung zu halten. Dazu gehören auch Nächte, in denen DJs Heino und Gitte auflegen. Schlagerpartys haben Konjunktur.

Wer eher auf Jazz und Funk steht, ist im Delicious Doughnuts richtig. Gegen halb zwei Uhr ist die Tanzfläche angenehm aufgeheizt. Man entblättert seinen Body, um schließlich mit dem Allernötigsten bekleidet die Beine zu schlenkern. Studenten und ewigjunges Volk tun es einem gleich, die Stimmung ist wie die Musik aus den Boxen: sonnig.

Die Zeit vergeht im Flug, und plötzlich überkommt einen der Durst nach einem Szenenwechsel. Man bettet die erhitzten Arme und Beine wieder in winterflauschige Lagen und bricht auf. Ein paar Ecken weiter hat ein neuer Laden aufgemacht, die richtige Uhrzeit, um festzustellen, ob er eine Zukunft hat. Ist es nachts um drei an einem Samstag leer, wird er wohl bald wieder schließen.

Das Brazil hat jedoch Chancen, es sitzen noch etliche Nasen am Tresen und trinken Cocktails. Ein Tourist aus München raucht Zigarre und küßt die Dame neben sich. Mitleid ist angebracht, der Mundgeruch muß schrecklich sein. 25 Mark hat die Stange zwischen seinen Zähnen gekostet. Im Brazil ist es nicht nur erlaubt, Glimmstengel dieser Preisklasse zu rauchen. Man kann sie dort auch kaufen. Fein säuberlich drapiert liegen sie in einem Kasten hinter Glas. Wer das erste Mal noch vor sich hat, bekommt vom Barkeeper eine Einführung. Paffen will gelernt sein.

Um vier Uhr morgens denken Nachtmenschen langsam an die Horizontale, und wer jetzt noch nicht ins Bett will, bestellt starken Kaffee. Zeit, noch einen Blick in den Eimer zu werfen, den schaurigsten Laden weit und breit. Wieder eine Art Burgruine, wieder dicke Mauern, doch diesmal eher eine Technogruft. Wer sich in den Keller begibt, muß den Kopf einziehen und am besten auch die Ohren. Der Sound bedarf in manchen Nächten der Gewöhnung.

Weiter oben im ersten Stock geht es gemäßigter zu, und man kann verbal etwas zu trinken ordern. Viel Sinn sollte man den nächsten Stunden nicht mehr geben, einfach abhängen und in den Tag hinein trödeln.

Vor dem Frühstück und der ersten U-Bahn eilt dem Morgen der Ruf des Hauses voraus: Alles im Eimer.

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