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Polaroids vom Barplaneten

Auf Querflöte und Heimorgel konzipiert: Jimi Tenors Musik ist wie geschaffen für schlaflose Nächte und Zeitverschiebungen. Die Schublade ist noch nicht gefunden. Finnischer Film-Noir-Easy-Listening-Jazz? Postmoderne Pinguinmusik?  ■ Von Max Dax

In Helsinki, Finnland, scheint die Sonne im Sommer auch nachts. Nur die Ladenöffnungszeiten erinnern dann an Wach- und Schlafzeiten. Ein Paradies für Komponisten andersartiger Nachtmusik, müßte man meinen.

Aber Jimi Tenor, selbst gebürtiger Finne und nur noch einen Atemzug vom internationalen Durchbruch entfernter Erneuerer des Easy-Listening-Jazz, hat dort nichts mehr verloren. „In Finnland mögen sie meine Musik nicht, sie ist ihnen zu seltsam“, sagt Tenor, der aussieht, als sei er der aus dem Nichts aufgetauchte Sohn Andy Warhols. Aber das verwundert ein wenig, denn die Musik, die der 26jährige auf Heimorgel und Querflöte entwirft, ist wie geschaffen für schlaflose Nächte und Zeitverschiebungen. In Hotelbars und Cafés, vor und nach der Liebe. „Aber Hotels sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Wir sind umgeben von schlechter Musik.“

So oder so, das neue Gesicht der ansonsten nach wie vor auf Anti- Startum setzenden Technoszene ist das von Jimi Tenor, mit einer riesenhaften Hornbrille auf der Nase. „Die hat drei Dollar gekostet, in New York, Styling muß nicht teuer sein.“

Ein Statement, das sich mühelos auch auf die Musik des Skandinaviers übertragen läßt, denn Tenor entwirft seine extrem stilisierten, schwül-futuristischen Erotik- Soundtracks auf seiner Hammondorgel, mit Querflöte, Saxophon und Drum-Computer. Zur Zeit in London, vorher für zwei Jahre in New York. Überlebt hat der Mann, der Helsinki den Rücken kehrte und bei dem Sheffielder Avantgarde-Label Warp Records einen langfristigen Vertrag unterzeichnet hat, indem er tagsüber Polaroids von Touristen auf dem Dach des Empire State Building geschossen hatte. „Ich habe dabei viel darüber gelernt, wie man sich inszeniert. Nur wenn du eine Show machst, kaufen sie dir auch die Fotos ab.“ Oder die neue Schallplatte.

Jimi Tenor, dessen hochinspiriertes neues Album „Intervision“ dieser Tage veröffentlicht wird, hat die Regeln des Showbusineß verinnerlicht. „In einer Musikszene, die von uninspirierten Epigonen dominiert ist“, stellt der britische New Musical Express 1995 treffend fest, „ist Jimi Tenor eine Oase der Originalität.“ Und Originalität heißt im Falle des Multiinstrumentalisten, dessen musikalische Idole Ian Curtis (The Joy Division), Sun Ra und Alan Vega (Suicide) heißen: James-Bond-artige Filmmusikarrangements, Streichersätze aus einem taschenrechnergroßen Yamaha-Sequencer, endlose Improvisationen auf der Hammondorgel, Dramatik, funky Bläsersätze, Schlagzeugsoli aus der Beat-Box, filigrane Querflötenläufe, Las Vegas, große Gesten. Anders ausgedrückt: Wenn die Wiederveröffentlichungen der „Raumschiff Orion“-Soundtracks aus den 50er Jahren (auf Bungalow Records) heute als modern und visionär bezeichnet werden, ist Jimi Tenor der erste Crooner des 21. Jahrhunderts. Das Geheimnis der Inspiration: „Irgendwann fiel mir einmal auf, daß ich meine Stücke immer dann komponiere, wenn ich starke Kopfschmerzen hatte.“

In Hamburg gibt Jimi Tenor Interviews zum Mittagessen bei einem B-Chinesen auf St. Pauli. Das kitschige Interieur des Restaurants mit seinen Versandhauskatalog- Seidenmalereien und roten Laternen ist eine fast perfekte Entsprechung zur Musik, die Tenor auf seinen mittlerweile drei Alben „Sähkömies“, „Europa“ (beide erschienen auf dem finnischen Ambient- Label Sähkö) und „Intervision“ sowie seiner in DJ-Kreisen hochgehandelten Trash-Barmusik- Single „Take Me Baby“ komponiert hat. „Ich hatte einmal Kontaktlinsen ausprobiert. Aber abgesehen davon, daß eine markante Brille ein wunderbares Mittel ist, um ein Image zu kreieren, war das, was ich zu sehen bekam, nicht mehr normal. Du kannst alles sehr präzise sehen. Das hat mich verwirrt. Alles realistisch zu sehen hat mich geängstigt.“

Als ob eine Einschränkung des Sichtfeldes zu einer kanalisierten Kreativität und abseitiger Inspiration führte, zeichnet der Mann, der die großen US-amerikanischen Entertainer, Isaac Hayes, Frank Sinatra „und Andy Warhol! Der ist ganz wichtig!“, zu seinen Blaupausen zählt, in seinem peitschend- verzerrten Track „Sugar Daddy“ das Selbstbildnis eines jungen Künstlers, der nach oben will: „I am heading only for the dollar bill / And I like it somehow“. Das Stück fällt in seinen Verweisen auf David Bowies Meisterwerk „Heroes“ und die aufputschmittelbejahenden 80er Jahre aus dem neuen, wieder einmal als Sammlung fiktiver Filmmusiken angelegten Album „Intervision“ heraus.

Dennoch sind die wenigen Textzeilen von „Sugar Daddy“ ein Paradebeispiel für Jimi Tenors ebenso selbstironischen wie mutmaßlich romantisch verklärten Versuch, eine musikalische Parallelwelt zu kreieren, die die Tragik des Film Noir ebenso selbstverständlich umfaßt wie ihr eine irrationale Melancholie und eine dadaistische Anarchie innewohnen. „Ich liebe abgeklärte Musik, denn sie ist gefährlich, und ich liebe die Gefahr. Zum Beispiel gibt es diese wunderschöne Schallplatte ,E.S.P.‘ von Miles Davis. ,E.S.P.‘ ist wie eine Taxifahrt an einem sonnigen Sonntagnachmittag durch Manhattan nach Harlem. Und plötzlich fallen Schüsse. Das meine ich. Diese Heroinmusik kann einen Menschen zu allerhand dummen Dingen verleiten.“ Und gäbe es nicht all die offiziellen, durchorganisierten Jazzfestivals in Europa, „die von Jazzverwaltern veranstaltet und besucht werden, als handelte es sich um ein Tennisturnier“, vielleicht würde sich dieser verrückte Finne de siècle selbst als Jazzmusiker bezeichnen.

Im Moment jedoch beschäftigt sich Jimi Tenor mit seiner eigenen Vermarktung. Für jeden Fotografen kramt er in seinem passenderweise entrückt-nostalgisch eingerichteten Hotelzimmer ein anderes Outfit aus der adidas-Tasche. „Ich bin mir bewußt, daß ich fotografiert werde. Wenn man ein öffentliches Leben wählt, dann muß man wissen, wo man stehen möchte, und das bedeutet auch, sich zu überlegen, wie viele Platten man verkaufen möchte, und welchen Preis man dafür zu zahlen bereit ist, bevor die Plattenindustrie einem die Bedingungen diktiert, denn ein solches Diktat anzunehmen bedeutet, daß du dich aufgibst. Ich habe keine Lust, mein Leben hinter den Gittern eines Images zu verbringen, das ich mir nicht selbst gründlich vorher durchdacht habe.“

Daß am Ende der Überlegungen das Bild eines äußerst gutgekleideten Sonderlings steht, dessen Musik „als Hintergrundmusik all dieser schlechten deutschen Pornofilme laufen müßte, die ich immer sehe, wenn ich in Deutschland nachts den Fernseher anmache“, entbehrt nicht eines gewissen Humors. „Ich bin nicht Chet Baker. Ich glaube, ich muß erst noch die eine oder andere Krise durchmachen und am Abgrund gestanden haben, bevor ich über existentielle Dinge singen kann.“ Also singt Jimi Tenor, der seinen wirklichen Namen nicht verraten will („der ist echt!“), von Sex und Balz statt von Liebe und Tod.

Vielleicht führt ja die Tatsache, daß Tenors – „ich sage: endgültiger“ – Abschied von Finnland und somit das Ausreißen aus der „langweiligen, grünen Heimat“ zu einem rastlosen Leben von Fototermin zu Konzertauftritt, von einer Stadt zur nächsten geführt hat, zu der gewünschten Abgeklärtheit.

Den jenseitigsten und zugleich mitreißendsten Pop-Entwurf im noch jungen Jahr 1997 hat Jimi Tenor auf alle Fälle bereits veröffentlicht. „What's the meaning of space travellin'?“ fragt Tenor zum Schluß des Gesprächs beim Überqueren der winterlichen Reeperbahn gänzlich unvermittelt: Schulterzucken. Ohne Pathos, aber ganz ernst, kommt die Antwort: „Yeah, Rock'n'Roll!“

Jimi Tenor: „Intervision“ (Rough Trade)

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