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Die Flagge gehört allen

Sterne streifen mit System: Das rätselhafte Werk des Jasper Johns in der Kölner Retrospektive  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Über das Spätwerk von Jasper Johns läßt sich schwer streiten, weil man niemanden findet, der es ernsthaft verteidigt. Was der jetzt 66jährige Maler in den letzten zwölf Jahren verzapft hat, ist prätentiöser Unfug ohne Grund und Halt: Ölgemälde und Graphitzeichnungen, die als Zitatgeflecht daherkommen, die sich aufplustern mit Geisterschemen, Schraffuren, Symbölchen und geklauten Images – man mag es kaum sagen, aber auch die Mona Lisa ist dabei, ohne jegliche Ironie. Ausgerechnet Jasper Johns wird heimgesucht von Bildungsikonen, brütet über Picassos Rätselstrich und Matissens radikal montierten Flächen. Und kommt bei nichts heraus.

Einem lebenden Künstler eine Retrospektive zu geben, die ihn auf das reduziert, was er vergeblich zu überwinden suchte: die Legende seiner frühen Tage – warum macht man das? Mir kam der böse Gedanke, daß so etwas vielleicht die Rache der Museumsleute an ihrem gescheiterten Liebling ist. Sie, die Kuratoren, sind vielleicht zehn Jahre jünger als Johns, und als sie Kunst zu studieren begannen, hat er ihnen die Augen geöffnet. Das war 1960. Als sie in bedeutenden Positionen saßen, war der Künstler schon auf halbmast. Er hat sie allein gelassen mit ihren Hoffnungen. Jetzt führen sie ihn als Kaiser vor, und was ruft die kindliche Stimme, was er anhat?

„Ein Werk“ zu präsentieren, „das vom ersten Augenblick an auf dem absteigenden Ast war“, wie Kritiker Hilton Kramer es gesagt hat, ist dennoch legitim. Vorausgesetzt, das Frühwerk sei überlebensgroß. Das ist bei Johns der Fall. Wenn aber alle, die es anging, aus seinem Werk etwas zu machen wußten (Erkenntnis, akademische Ehren, andere Werke) – nur der Künstler nicht –, dann muß die Autorität seines Frühwerks neu gedeutet werden. War es vielleicht nicht ... seines?

Jasper Johns ist als Südstaatler unter den prominenten Künstlern Amerikas eine Ausnahme. Die einen finden ihn charmant, die anderen kauzig. Er stiert aus den Fotografien, die Augen als Abwehrgeschütz. In raren Filmaufnahmen sieht man, wie er nach Worten ringt, besessen von der Vorstellung, jede Antwort müsse endgültig sein. In einer Filmsequenz bricht er in unkontrolliertes Lachen aus. Die Interviewer lachen nicht.

Zielscheiben in New Yorker Lofts

Johns geht zweimal nach New York: im Dezember 1948 und dann, nach seiner Armeezeit, wieder im Herbst 1953. Auf Manhattan boomen die abstrakten Stile. Johns hat seine Malerausbildung an einem Provinzcollege abgebrochen, arbeitet (über Jahre) in einem Buchladen und macht den entscheidenden Schritt: Er mietet sich ein Loft. Es hat rohe Dielen, die Backsteinwände werden weiß gestrichen. Der Raum ist etwa zwei Meter hoch.

In diesem klaustrophobischen Ambiente entwirft Johns über drei Jahre sein Werk, das in jedem Sinne reif war, als der Galerist Leo Castelli heute vor 40 Jahren es entdeckte. Es waren karge, detailscharfe Gemälde von Flaggen und Zielscheiben; Tableaus von Ziffern und Zahlen. In seiner unnachahmlichen Art gab Johns zu Protokoll, daß man sich besser aufs Malen konzentrieren könne, wenn der Gegenstand nicht mehr gefunden werden müsse.

Flaggen und Zielscheiben: keine absurde Wahl für einen jungen Mann, der zwei Jahre bei der Armee war. Die Flagge hat sich dabei als das produktivere Sujet gezeigt. So wie Johns sich das amerikanische Symbol aneignet, begreift er es nur als Bauanleitung: die damals noch 48 Sterne, die dreizehn Streifen; die doppelte Asymmetrie, die dadurch entsteht, daß das blaue Feld mit den Sternen in der Höhe sieben von dreizehn Streifen einnimmt und in der Breite nicht bis zur Hälfte gezogen ist. Die „Flag“ (als Fassung von 1954/55) geht von der tatsächlichen Proportion aus, aber die Farbe ist in einer Wachs- und Pigmenttechnik, die altertümlich ist und „Enkaustik“ heißt, auf einen collagierten Zeitungsgrund aufgetragen. Der Effekt ist außerordentlich feierlich.

Eine Flagge-für-über-die- Couch, nun gut. Dann aber baut Johns das System aus: stellt sie als Querformat in einen hochformatigen orangenen Grund (wie eine Lithographie in einem grellen Passepartout). Und montiert sie als wuchernden Signifikanten in drei Größen übereinander. Was die interessante Frage aufbringt, was mit der Fläche zu geschehen habe, die durch die nächst kleinere Flagge verdeckt ist: Es heißt, die verdeckten Flächen seien grau.

Die Flagge hat also das Seismometer der Theorie berührt. Schnell schießt sie auf zur Metapher: „die Flagge“ von Jasper Johns, als gäbe es eine. Und warum stehen die Stars and Stripes auf ältlichem Zeitungsgrund? Wieso schimmert durch das Symbol die Geschichte? Und was ist das eigentlich für eine Farbe, Enkaustik, die eine schwerfällige Handwerklichkeit mit der Eleganz des nachlässig Delikaten zur Aufführung bringt?

„Die Flagge“ wird zum Vorhang eines Bühnenraums, der, geöffnet, ein Theater des Denkens freisetzt. Sie ist das emblematische Siegel auf den Triumph der amerikanischen Kunst. Und sie ist das Tor zu einer Kunst der Ware, der Comics und der Medien, die sich ebenfalls über die Castelli-Galerie in den Mainstream kanalisiert; und die „Pop“ heißen wird. Deshalb ist, USA-spezifisch gesehen, die Fahne auch stärker als zum Beispiel die Zahlen: Die Fahne gehört allen; die Zahlen gehören niemand.

Wie präzise Johns in seinem niedrigen Loft arbeitet, sieht man am Bau der Keilrahmen, an der Collagierung des Bildgrunds, an Schimmer und Kontur des Farbauftrags – aber vor allem an den Formaten. Genau ein Meter achtundneunzig hoch ist die „White Flag“, folglich gut drei Meter breit. Die graphische Heraldik umbricht er in einen ungleichmäßigen, störrischen Auftrag von Weiß; Ergebnis ist etwa Eierschale auf Scheunenwand. Es ist ein enormes, tatsächlich „abstraktes“ Gemälde, vor dem – wenn das nicht Aura ist! – auch die Betrachter in seltsamer Pracht erscheinen, gescannt auf Wunder. Der Künstler, der Glückspilz, hat das Bild nie verkauft (und in der Ausstellung ist es nicht verglast!).

Und nun ist das Theater des Denkens eröffnet: die Streifen von Daniel Buren, die Adaption des Objekts per Brillo-Schachtel, die Gitter und Reliefs der auf Minimum gepolten Ikonoklasten. Hinter der weißen Fahne blättert sich ein Buch auf: Es enthält alle weißen Bilder von Robert Ryman. Mit den Streifen wächst die subtile Denkart von Frank Stella in das erweiterte Tafelbild. Auch die Frage des Unsichtbaren (dessen, was gemacht ist, aber versunken ist in der Idee) kommt auf; bis zu Walter de Marias „Erdkilometer“ in Kassel, 1977. So wirkt das Frühwerk von Johns.

Still und schweigsam Backgammon spielen

Nur eben nicht auf Jasper Johns selbst. Er, der leidenschaftlich Backgammon spielt, weil man dann nicht reden muß, sagte, daß er nicht Schach spiele, weil er sich die Zukunft nicht vorstellen könne. Und das galt auch für seine eigene. Er bewunderte Duchamp, der ihn mochte. Als Maler solide, dingorientiert, konservativ, reiste er nun zurück in die Tradition der Avantgarde. Die Lakonie kippt um ins Störrische; und das Schöne bleibt übrig in bourgeoiser Ödnis, als High-brow-Hobby des früh gealterten Meisters.

Ist das die Logik frühen Ruhms? Ich denke: nein. Frank Stella hat sein strenges Projekt fallengelassen für eine ekstatische Erkundung von Flächen, Durchdringungen und Farben. Cy Twombly ist seiner Prätention unbeirrbar gefolgt. Chuck Close hat von seiner rätselhaften Physiognomiekunde nie abgelassen. David Hockney ist bei allem Zweifel über die Motive immer ein Meister der Farben geblieben. Lichtenstein wurde ein kalter Konstrukteur des Werkzitats, aber nicht ohne Bravour. Johns ist ein Sonderfall.

1954: Da sitzt er in seinem Pearl Street-Loft; an einem kleinen Tisch am Fenster, mit seinem Lover Robert Rauschenberg. Der war fünf Jahre älter und hatte diese ungeheure Kraft, seine partikularen Motive in ein gestisches Bildfeld zu schleudern. Johns ist ihm einen Teil des Wegs gefolgt. Aber nicht die Gestik des Werks ist das Unbewältigte in Johns' Werk. Es gibt da melancholische Spuren von Körperkunst. Angefangen bei den getönten Körperfragmenten, die älteren Arbeiten sind als Kopfleiste aufgesetzt. Ein Knierelief; ein metallisch gespachtelter Gipsschuh mit eingelassenem Spiegel, der „High School Days“ heißt; und, versteckt in der Flut der Muster-Gemälde aus den siebziger und achtziger Jahren, Kohle-Abdrücke seines eigenen Körpers auf Papier, mit denen er sich der eigenen Arsch- und Hodenphysis pathetisch versichert („Skin“ I und II, 1973). Kein Yves Klein; nur ein Schatten des Begehrens.

Mitte der fünfziger Jahre hatten die Abstrakten Expressionisten die meisten Lehrpositionen an Akademien und Colleges besetzt. Sie verlangten von den Studenten, das ganze Gewicht ihrer Existenz in den Akt des Malens zu gießen. Ganz zu Recht sagte damals ein Student: „Aber was hat ein 23jähriger für ein Gewicht?“

Das Modell Pop aber kehrt den Vorgang um, leiht den Verstärker an das Halbwissen aus, läßt nichts besser aussehen als das knappe, schnelle, elektrische Inventar. Dies ist der Moment, wo die Persönlichkeit sich formt, unter den Augen vieler. Warhol ist das beste Beispiel. Johns ist keines. Im Zeitalter des Pop ist er ein Alien geblieben, ein Privatier, ein aufrechter Grübler, einer wie du und ich.

Jasper Johns: Retrospektive. Museum Ludwig, Köln, bis zum 1. Juni. Katalog (Prestel) 59 DM

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