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Der rätselhafte Tod des Sylvio Amoussou

Lübecker Brandprozeß: Ein noch immer ungeklärter Todesfall paßt partout nicht in das Brandszenario der Staatsanwaltschaft  ■ Von Marco Carini

Sylvio Amoussou kann nichts mehr sagen. Am 18. Januar vorigen Jahres, der Brandnacht im Lübecker Flüchtlingsheim, kam der 27jährige Migrant im hölzernen Vorbau der Unterkunft an der Hafenstraße auf mysteriöse Weise ums Leben. Der rätselhafte Tod des Sylvio Amoussou wird in diesen Tagen, in denen der Lübecker Brandprozeß gegen den Libanesen Safwan Eid durch die Vorträge der Brandgutachter in eine entscheidende Phase gerät, zentrale Bedeutung bekommen.

Denn auch als stummer Zeuge weist Amoussou darauf hin, daß im hölzernen Vorbau, wo die Verteidigung den Ausbruch des Feuers vermutet, etwas bislang Ungeklärtes geschehen sein muß. Die Staatsanwaltschaft – die den Ausbruch des Feuers im ersten Stock vermutet - hat bislang für Amoussous Tod keine plausible Erklärung anbieten können: Die Leiche will einfach nicht in ihr Brandszenario passen. Einmal mehr deutet die Aktenlage an diesem Punkt auf erhebliche Ermittlungslücken der Ankläger hin.

Der letzte, der Amoussou lebend gesehen hat, ist sein Zimmergenosse im ersten Stock des Lübecker Flüchtlingsheim, Ray Sossou. Gegen 3.15 Uhr, so berichtete der heute 14jährige Mitte Februar dem Lübecker Landgericht, habe Amoussou ihn in der Brandnacht mit dem Ausruf „Feuer, Feuer“aus dem Schlaf geholt. Anschließend seien sie gemeinsam durch den Flur in Richtung Treppenhaus gegangen. Ray Soussou will Sylvio Amoussou noch ein paar Stufen hinab in Richtung des hölzernen Vorbaus begleitet haben. Von der Treppe aus habe er dort erstmals lodernde Flammen gesehen. Während Amoussou den Weg hinunter ins Erdgeschoß fortsetzte, machte Soussou kehrt. Sylvio Amoussou sieht er nie wieder.

Stimmen die Aussagen des Jugendlichen, ist die These der Staatsanwaltschaft, nach der das tödliche Feuer im ersten Stock des Hauses ausgebrochen ist, vom Tisch. Die Ankläger Michael Böckenhauer und Axel Bieler aber reagieren in gewohnter Manier: Immer wieder lassen sie im Laufe des Verfahrens durchblicken, daß sie den Zeugen, der ihr Brand-Szenario am 37. Verhandlungstag ad absurdum führte, für unglaubwürdig halten.

Vier Tage nach dem verheerenden Brand, am 22. Januar, liegt die stark verkohlte Leiche von Amoussou auf dem Obduktionstisch des Direktors der Rechtsmedizin in der Uniklinik Lübeck, Manfred Oehmichen. Der Gerichtsmediziner ist ratlos. Er kann sich partout nicht erklären, wie der junge Mann starb. Der Flüchtling hatte offenbar keinen Rauch eingeatmet. Anders als bei den anderen Brandopfern finden sich in seinen Atemwegen und seiner Lunge weder Rußpartikel noch Kohlenmonoxid. Oehmichen ist sich deshalb sicher, daß Amoussou nicht durch das Feuer zu Tode gekommen sein kann. Doch der Mediziner entdeckt auch keinerlei Spuren äußerer Gewalteinwirkung.

Dafür macht der Pathologe eine andere wesentliche Entdeckung. „Der Leiche aufgelagert und locker um die Leiche herumgewunden“, vermerkt er in seinem Bericht, „findet sich ein dünner Draht, der verrußt ist.“Das mysteriöse Stück Metall erregt wochenlang nicht das Interesse der Staatsanwaltschaft. Erst als die Verteidigung den Lübecker Oberstaatsanwalt Dr. Klaus-Dieter Schultz mit der Nase auf den Vermerk des Rechtsmediziners stößt, werden die Ermittler aktiv.

Am 10. April, fast drei Monate nach der Obduktion, schicken sie einen Beamten in die Rechtsmedizin, der sich dort ein verkohltes Stück Draht aushändigen läßt. Doch obwohl Eisen durch intensive Feuereinwirkung korrodiert, ist das Metall, das in der Asservatenkammer landet, an mehreren Stellen nicht verrostet, sondern blitzblank.

Die Ermittler – inzwischen auf Touren gekommen – forschen weiter: Sie inspizieren die Brandruine, knipsen Kabel ab und sammeln Drahtspuren. Und finden im gesamten Haus kein einziges Stück Metall, das in seiner Beschaffenheit der Metallspule gleicht, die um Sylvio Amoussous Körper gewickelt war. Sollte der Draht nicht zwischenzeitlich vertauscht worden sein, muß irgend jemand die Metallschnur von außerhalb in das Haus mitgebracht hat.

Warum das Metall unbekannter Herkunft um den Toten gewunden war, dafür hat die Staatsanwaltschaft in ihren umfangreichen Berichten bisher keine Erklärung versucht. Auch der Fundort der Leiche bringt sie nicht ins Grübeln. Klar ist: Amoussou starb nicht auf der Flucht vor dem Feuer, das nach Auffassung der Ermittler zunächst im ersten Stock wütete. Denn die Leiche des 27jährigen wurde abseits der Fluchtwege gefunden.

Der Erklärungsnotstand der Ankläger aber geht noch weiter. Kein Opfer des Lübecker Brandanschlages weist dermaßen starke Verbrennungen auf wie Silvio Amoussou. Dafür gibt es bislang nur zwei plausible Deutungen: Entweder hat es im hölzernen Vorbau am längsten – und damit zuerst – gebrannt, oder es hat dort eine besonders starke Hitzeentwicklung gegeben, die auf Brandbeschleuniger schließen läßt. Den vermutet auch der Brand-Gutachter Ernst Achilles, der am morgigen Mittwoch erneut als Sachveständiger aussagen wird. Beide Szenarien aber bestärken die These der Verteidigung, wonach der Brand im Vorbau seinen Ausgang nahm und möglicherweise von Tätern gelegt worden ist, die sich von außen Zutritt verschafften.

In die Version des Tathergangs, auf die sich die Staatsanwälte festgelegt haben, passen die extremen Verbrennungen des Flüchtlings hingegen nicht – und werden folglich in der Anklageschrift auch nicht gewürdigt. Obwohl das Gutachten des Rechtsmediziners Manfred Oehmichen mehr Fragen aufwirft als beantwortet, erkennen die Ermittler unmittelbar nach dem Brandanschlag keinen weiteren Aufklärungsbedarf. Bereits elf Tage nach dem Feuer gibt Staatsanwalt Böckenhauer die Leiche des Brandopfers zur Bestattung frei.

In ihrer Anklageschrift bringen die Staatsanwälte schließlich die Theorie ins Spiel, daß Amoussou durch einen Atemstillstand, ausgelöst durch plötzlichen Sauerstoffmangel, starb, noch bevor er giftige Brandgase einatmen konnte. Warum aber die Flammen gerade im Vorbau der Luft Unmengen Sauerstoff entzogen haben sollen, wo es laut Anklage doch zunächst nur im ersten Stock gebrannt haben soll, darauf geben sie keine Antwort.

Statt dessen geben die Ankläger – die Ermittlungen sind offiziell längst abgeschlossen – ein Gutachten über den Tod Amoussous bei dem Diplom-Ingenieur Dr. Herdejürgen in Auftrag. Doch auch dessen Untersuchung bringt keine Aufklärung.

Der im Dienste des Kieler Landeskriminalamtes stehende Herdejürgen kramt eine angejahrte Studie aus Norwegen hervor, nach der aus unbekannten Gründen bei acht von 286 Brandopfern keine erhöhten Kohlenmonoxid-Werte im Blut und kein Ruß in der Lunge gefunden wurde. Damit ist für den Gutachter und die Staatsanwälte der Fall klar: Der Tote gehört zu den ganz seltenen Brandopfern, bei denen sich unerklärlicherweise keine Rauchgasspuren im Organismus nachweisen lassen. Ein Rätsel wird mit einem Rätsel gelöst.

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