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„Wir sind das Kapital“

Vom Beobachterposten am Straßenrand der siebziger Jahre über die frei schweifenden Unmutspotentiale im abzuwickelnden Osten bis zur Ohnmachtswut der Stahlkocher im Revier – kleine proletarische Protestchronik  ■ Von Helmut Höge

„Wenn der Bau einer Brücke das Bewußtsein derer, die daran arbeiten, nicht erweitert, dann soll die Brücke nicht gebaut werden.“ (Frantz Fanon) Diese Forderung eines Theoretikers des antikolonialen Befreiungskampfes aus den 50er Jahren klingt heute derart utopisch, daß wir augenblicklich zur nächsten übergehen: 1970 demonstrierten die „revolutionären Schüler und Studenten“ in Berlin am 1.Mai durch Neukölln. Die Arbeiter standen abseits, vor ihren Kneipen, und schauten sich mißmutig den Demonstrationszug an. Eine der Parolen lautete „Was wir wollen/Arbeiterkontrollen!“ Ein nicht mehr nüchterner Arbeiter quittierte am Straßenrand die Forderung mit der Bemerkung: „Jetzt woll'n se uns och noch kontrollieren!“

Dieser Zustand, daß die „Linken“ oder „Systemkritiker“ auf die Straße gingen und das „historische Subjekt“ bestenfalls blöde Bemerkungen dazu machte, änderte sich eigentlich erst mit der Auflösung der DDR: „Erst seit der Vereinigung ist wieder Klassenkampf in Deutschland möglich“, so sagte es Heiner Müller 1994. Er hatte zuvor schon – am 9. November 1989 – eine Rede gehalten, in der er zum Mißfallen fast aller damals auf dem Alexanderplatz Versammelten die Notwendigkeit „unabhängiger Gewerkschaften“ begründete. Eigentlich wollte Müller nur eine Passage aus seinem „Fatzer“ vortragen, aber dann las er statt dessen eine Rede von Renate Hürtgen, die mit zwölf anderen Intellektuellen eine „Initiative für unabhängige Gewerkschaften“ gegründet und der die Veranstalter einen Auftritt verweigert hatten.

1993 hatte sich das „Protestpotential“ derart gewendet, daß sich einige Linke, Klaus Schlesinger z.B., bei der 1992 entstandenen „Ostdeutschen Betriebsräteinitiative“ erkundigten, ob sie an einer „Solidaritätsveranstaltung“ der hungerstreikenden Kalikumpel in Bischofferode teilnehmen sollten. Die „Systemkritiker“ aus dem Westen – vom hessischen Maoisten bis zu Helga Zepp la Rouche – hatten weniger „Berührungsängste“ und agitierten dort z.B. ähnlich hemmungslos gegen das „Großkapital“, wie umgekehrt zur selben Zeit die Kasseler Manager von BASF/ Kali& Salz die Ostgeschäftsführer der Mitteldeutschen Kali AG zur „Fusion“ drängten. Während diese dabei den „Weltmarkt“ bemühten, machte die Europäische Arbeiterpartei die Juden, speziell George Soros, für alle Weltübel verantwortlich. Aber auch der allzu bürgerrechthaberisch auftretende Wolfgang Thierse kam bei den Kalikumpeln nicht gut an.

Begeistert waren sie dagegen von den zu Dutzenden angereisten Ruhr-Bergarbeitern, die sich aus Solidarität und Neugier krank schreiben ließen bzw. ihren Urlaub drangegeben hatten. Sie wiederum waren schwer beeindruckt von den Arbeitsbedingungen der Kalikumpel. Ihre These, die DDR sei weniger an der Unfreiheit als an zu viel Freiheit – im Produktionsbereich nämlich – zugrunde gegangen, leuchtete mir dort – in den wie gute Stuben wirkenden Stollen unter Tage – sofort ein. Der für die Kali- „Fusion“ verantwortliche Treuhand-Manager Schucht sagte im Spiegel: Der Bischofferoder Kampf hat „eine gewaltige Wirkung auch auf Betriebe im Westen“. Wenn man den nicht bricht, „wie will man dann in Deutschland noch Veränderungen bei den Arbeitsplätzen durchsetzen?“ Etliche „68er“ aus dem Westen – inzwischen an ostdeutschen Unis untergekommen – akquirierten derweil erfolgreich Drittmittel zur „Politikberatung“, in der es um „Aufruhrprävention bei Betriebsschließungen“ ging, wie der Leipziger Uni-Transformationsforscher Peer Pasternak 1995 berichtete. Die nahezu vollständig auf den Westen übergegangene „Deutungsmacht“ (Thierse) war jedoch ohne solche Minnedienste bereits zu dem Urteil gekommen, daß es sich bei den Protestlern bloß um reaktionär dem ökologisch-ökonomischen Fortschritt entgegenstemmende Ostdumpfbacken handele. Derweilen bemühte die Springer- Presse Schiller: Der CDU-Betriebsrat würde nun die roten Socken nicht mehr los, die er rief, „entdeckte“ der aus Hessen anreisende taz-Reporter ein ums andere Mal nur quasi stasibelastetes „Plaste und Elaste“ bei den Ekel-„Kunstdünger“-Produzenten im Eichsfeld. Die Paranoia des Neuköllner Prolos, die Linken würden die Arbeiter (auch nur) kontrollieren wollen, erwies sich mit zunehmendem ostdeutschem Widerstand gegen die Treuhand als allzu berechtigt. Selbst die wohlwollend-publizistische Begleitung der Betriebsräteinitiative durch SED-Forscher der FU, u.a. Martin Jander, geriet mit der Zeit derart distanziert-besserwisserisch, daß er zusammen mit anderen intellektuellen Sympathisanten (Ost wie West) aus der Initiative ausgeschlossen wurde. Besonders FAZ und Spiegel wetteiferten in der Folgezeit beim Runtermachen von Arbeiter- und Bauernprotesten in der ehemaligen DDR. Erwähnt sei ein Spiegel-Artikel über die Berliner IG-Bau-Arbeitslosendemonstrationen im März 1997: „Als die Bauarbeiter ausgerechnet auf der Reichstagsbaustelle wieder überwiegend ausländische Konkurrenten sahen, war kein Halten mehr.“ Da stimmt nichts – im Gegensatz zum Spiegel- Reporter war ich die ganze Zeit dabei: Nicht ausländische Bauarbeiter, sondern die Bürocontainer der Baufirma wurden mit Steinen beworfen, später wurden primär deutsche Arbeiter auf den Baustellen beschimpft, weil sie allzu ostentativ den Protest der Arbeitslosen ignorierten – und sich so wie Streikbrecher benahmen. Ständig ist im Artikel von den (proletarischen) „Verlierern“ die Rede, die quasi deutsch-naturgesetzmäßig zu Rassenhaß neigen und denen es ansonsten scheißegal ist, wo und was sie arbeiten, solange ihr Lohn stimmt. Diese zwar hoch-pc-politische, aber von keiner Empirie getrübte „Sicht“ findet sich sogar noch 1997 in einem Beitrag des rätekommunistischen Ostorgans Sklaven über die Betriebsräteinitiative, in dem Bernd Gehrke (von der Vereinigten Linken) ausgerechnet die aktivsten, 1995 bei der PDS gelandeten Ostbetriebsräte als gescheitert abtut. Die Westberliner Arbeiter sahen die Ostproteste anders: Etliche Betriebsräte aus Großbetrieben arbeiteten sofort in der Initiative mit. Und die von Abwicklung bedrohten Kreuzberger Schultheiss-Beschäftigten initiierten Ende 1994 eine „Montagsdemo“ vor dem Roten Rathaus. Auch sie beklagten sich im übrigen besonders über die taz, der Schultheiss bloß ein Synonym für verfettete Berufsberliner sei und die ansonsten nur bunte Proteste von fröhlichen Konsumenten mit Abitur (Gorleben soll leben!) feature. Die Schultheiss-Leute waren trotzdem erfolgreich – insofern sie dann eine ABM-Firma gründeten, in der sie eigene Patente zur Serienreife brachten. Als später Leipzigs Brauereiarbeiter auf die Straße gingen, solidarisierte sich die halbe Stadt mit ihnen.

Wegen der Streichung des Schlechtwettergeldes kam es 1994 zum Bauarbeiter-„Protestmarsch nach Bonn“. Die Bundesregierung hatte zuvor zwei Ostberliner Baubrigadiere mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, weil sie sich beim Aufstand 1953 gegen die reallohnabsenkenden Normerhöhungen als Rädelsführer hervorgetan hatten. Im darauffolgenden Jahr demonstrierten 7.500 ehemalige Orwo-Mitarbeiter für eine Verlängerung ihrer ABM: Es war die größte Demo seit der Wende, größer sogar als die dortigen „Unruhen“ am 17.Juni 1953 – und sie war ebenfalls erfolgreich. Der bayrisch durchsetzte MDR berichtete zwei Minuten über die Proteste in Wolfen und dann 20 Minuten über die Einweihung eines Spielcasinos in Halle! „Die deutsche Einheit ist erst vollendet, wenn auch der letzte Ossi aus den Grundbüchern getilgt (und auf Arbeitsuche nach Westen gezogen) ist, aus den Handelsregistern sind wir schon raus“, so der Orwo-Betriebsrat Hartmut Sonnenschein. Gegen die Politik wurden in Wolfen wieder vereinzelte „Wir sind das Volk“-Rufe laut. Auch die Steinkohle-Bergarbeiter von Ruhr und Saar riefen dann 1997 in Bonn „Wir sind das Volk“ – und ertrotzten, analog zu den bereits arbeitslosen 15.000 Braunkohle-Arbeitern im Osten, eine Art Groß-ABM bis zum Jahr 2005. Ein Drittel der Ruhr-Bergarbeiter sind inzwischen „Türken“, rechnete dagegen die FAZ rassistisch vor. Die westdeutschen Stahlarbeiter skandierten daraufhin in Frankfurt am Main: „Wir sind das Kapital!“ Auch ihr Protest hatte zum Teil Erfolg. Zwei Reporterinnen sprachen anschließend in Spiegel und taz von der „Ohnmachtswut“ der Stahlkocher und die FAZ davon, daß die Arbeiter der Bundesrepublik derzeit ein „Schauspiel“ gäben, „daß man im Land seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hat“. Auch hungergestreikt wurde wieder: beim Ostberliner Batteriewerk Belfa erneut – mit der Unternehmensleitung diesmal, bei der Delta Airlines in Frankfurt am Main gegen sie. Die SPD „solidarisierte“ sich, und einzelne grüne Vordenker wogen das Wort „Klassenkampf“ ab: „Links wird wieder chic“, warnte daraufhin die Wirtschaftswoche weise.

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