■ Schlagloch: Mach's uns noch einmal, Helmut Von Nadja Klinger
„Dies war der letzte Schuß, den der Bundeskanzler im Rohr hatte.“ Klaus Wirtgen, Redakteur beim „Spiegel“ im ARD-„Presseklub“ am 6. April 1997
Opas letzte Nummer macht Krach. Das ist wohl immer so. Denn bald, das weiß Opa, wird er abnippeln. Das ist das Leben. Eine höhere Bedeutung hat Opas letzte Nummer nicht, selbst wenn Opa noch einmal Bundeskanzler werden will. Denn wir müssen ihn ja nicht wählen.
Dennoch ist, nachdem Helmut Kohl in der vergangenen Woche erklärt hat, daß er im nächsten Jahr noch einmal zu den Bundestagswahlen antreten wolle, die öffentliche Debatte im Lande sehr bedeutungsschwer geworden. In Sondersendungen schauten Männer ernst drein und blockierten den gemütlichen Fernsehabend. Kommentatoren fielen über die Tageszeitungen her und sich gegenseitig ins Wort.
Helmut Kohl sei für ihn kein Mann der Zukunft, sagte Klaus Wirtgen Sonntag mittag im Fernsehen. Er machte ein finsteres Gesicht.
Auf der Straße unter meinem Fenster schien die Sonne. Keiner der Debattierenden hatte etwas gegen Wirtgens Feststellung einzuwenden. Doch meine Aussichten verfinsterten sich nicht. Denn die ganze Debatte unterliegt einem Irrtum. Die Zukunft hängt nicht davon ab, wie viele Schüsse ein Mann im Rohr hat.
Die Zukunft wohnt in dem Mietshaus wie dem, in dem ich wohne. Die Zeit ist nicht spurlos vorübergegangen, sie hat die Fassade zum Bröckeln gebracht und sich in den Wohnungen eingenistet. Jeden Freitag wird im Mietshaus gegenüber saubergemacht, abends um acht wird die Haustür abgeschlossen. Die Mieter schotten sich ab, eine Klingelanlage gibt es nicht. Trotzdem stinkt es in der Ecke neben der Kellertür penetrant.
Hier klebt ein Zettel. Jemand, der das erste Mal in seinem Leben bunte Filzstifte zu besitzen scheint, hat jedes Wort mit einer anderen Farbe geschrieben: „Wer sich beim Pissen läßt erwischen, wird kräftig in den Schwanz gebissen.“ Meine siebenjährige Tochter las mir den Zettel dreimal laut vor. Ich wollte ihn abreißen. Doch er war längst im geistigen Besitz des Kindes. In unserem Haus habe sie ihr erstes Gedicht selber auswendig gelernt, erzählt sie stolz.
Wer wirklich etwas über die Zukunft erfahren will, der muß unter dem großen Schatten von Helmut Kohl durchtauchen. Dann muß er sein Fahrrad im Treppenhaus unseres Mietshauses abstellen und zwei Tage warten. Mich hatten in diesen Tagen alle Mieter mindestens einmal beim Abstellen oder Wegfahren gesehen. Sie grüßten freundlich.
Plötzlich hing eine Mitteilung der Hausverwaltung neben den Briefkästen. Auf dem Zettel wurde unser Hausflur als Ort der Ordnung und der Vorschriften sowie als Fluchtweg vor dem Feuer beschrieben. Jedes herumstehende Fahrrad störe die Ordnung, die Flucht und vor allem die Vorschriften und würde ab sofort zum Sperrmüll transportiert, ebenso alle herumstehenden Kinderwagen. Natürlich, räumte die Hausverwaltung ein, könne kurzzeitig ein Kinderwagen stehengelassen werden. Klammer auf: „Zum Beispiel, um die vergessene Geldbörse aus der Wohnung zu holen.“ Klammer zu.
Ich weiß nicht, wie oft in unserem Hausflur jemand vor dem Feuer flieht. In der allgemeingültigen Hausordnung für Mietshäuser in Berlin steht, daß im Treppenhaus kein Platz ist. In unserem Mietshaus ist Platz. Ich weiß nicht, warum die Mieter sich an die Hausordnung und nicht an den vorhandenen Platz halten.
Das erste Gesicht, das sich auf mein Klingeln hin zeigte, lächelte freundlich. „Stört Sie der Kinderwagen?“ fragte ich. Meine Nachbarin verschluckte ihr Lächeln und mußte husten. „Ich mach' so was nicht, ich rufe da nicht an“, antwortete sie und zeigte mit dem Finger nach unten, wo der Zettel der Hausverwaltung hing. Sie sprach so laut, als wollte sie irgend jemandem ein Signal geben. „Ich habe mich schon ein paarmal an dem Kinderwagen gestoßen“, fügte sie hinzu.
„Haben Sie deshalb ab und zu gebrauchte Taschentücher oder anderen Abfall hineingeworfen?“ fragte ich. Ich bekomme regelmäßig solcherart Zeichen. Die Ventile vom Fahrrad fehlen, am Türschild ist rumgepult worden, oder ich finde den Werbekrempel von anderen Mietern in meinem Briefkasten. Die mir solche Zeichen geben, wollen nicht entdeckt werden. Meine Nachbarin stieß ihr verschlucktes Lächeln als falsches Grinsen wieder auf. „Ich muß doch bitten“, sagte sie.
„Ich ruf' da nicht an“, sagte der Mann, der die nächste Wohnungstür öffnete, sofort. Er schaute mich erleichtert an und war gleichzeitig total verspannt. Seine Beteuerung hatte einen Haken. Da – das ist eine Instanz, die mein Nachbar in diesem Moment ablehnt und auf die er sich im nächsten Moment wieder beruft. Da wird alles für ihn erledigt und damit alles verschuldet. Ich kenne das noch aus der DDR.
Die Menschen brauchen Da, weil sie keine Verantwortung übernehmen wollen. Dieses Bedürfnis überdauert ein großes politisches Ereignis wie den Fall der Mauer unbeschadet. „Das mit den Kinderwagen muß wohl sein, aber das Fahrrad kommt weg“, fordert der Mann. „Warum haben Sie nichts gesagt, als Sie mich mit dem Rad gesehen haben?“ fragte ich. Niemand würde mir ins Gesicht sagen, daß ich ihn störe. „Das ist doch nicht meine Aufgabe“, antwortete der Mann.
Die Mieter in unserem Haus reden übereinander, nie miteinander. Der Versuch, sich zu verständigen, endet in einem Wortwechsel. Jeder sagt, was er immer gesagt hat, dann gehen die Türen wieder zu. Das ist im Mietshaus wie im Leben. Der Blick durch den Spion ist der einzige Blick nach draußen. Die Aussicht ist trübe: Es ist keine Zukunft zu erkennen. „Ich trete an, weil ich die Verpflichtung habe, das zu tun“, sagte Helmut Kohl zu seiner Entscheidung. Doch große Politik hat keinen Einfluß darauf, was wirklich passiert.
Als die Deutsche Demokratische Republik unterging, wähnte ich die Zukunft zum Greifen nahe. Ich unterlag einem Irrtum, denn ihre wahren Chancen waren nicht da. Sie waren bei den Menschen selbst und verschwanden mit ihnen in ihren muffigen Mietshäusern auf Nimmerwiedersehen. „Ich habe hier drei Jungs großgezogen, wir durften früher auch nichts im Hausflur abstellen“, sagte die dritte Nachbarin in unserem Haus, bei der ich geklingelt hatte. „Ich sehe nicht ein, warum Sie das jetzt dürfen sollen.“
Für die Zukunft wünsche ich mir, daß ein böser Hausbesitzer unser Mietshaus zurückbekommt und die Mieter rauswirft. Dann läge all ihr vermiefter Krempel, mit dem zusammen sie sich vor der Zeit weggeschlossen haben, auf der Straße. Der Wind würde den Staub wegblasen. Meine Nachbarin müßte ihre Ansprüche erweitern und könnte auf meine Forderung, sie solle mit mir reden, nicht erwidern: „Nachher grüßen Sie nicht mehr. Ich will gegrüßt werden in dem Haus, in dem ich wohne.“
Bis dahin mach's uns noch einmal, Helmut!
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