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Mit den Augen eines staunenden Kindes

■ Spannung auf dem Balkon, Freude am Strand – pünktlich zur Ferienzeit: Urlaubslektüre aus Hamburger Verlagen

Anne Holt: Blinde Göttin

Eine verwickelte Geschichte präsentiert die norwegische Autorin Anne Holt in ihrem Erstlingswerk Blinde Göttin. Mühsam und schleppend entwickelt sie sich über lange Strecken. Aber so ist der Polizeialltag: Voller Frustrationen, geprägt von Routinearbeiten. Die Autorin weiß das aus ihrer eigenen Erfahrung als Polizistin.

Die Geschichte beginnt mit einem Paukenschlag. Die Osloer Wirtschafts-Anwältin Karen Borg muß sich übergeben, als sie bei ihrem Sonntagsspaziergang einen Leichnam ohne Gesicht findet. Gut, daß der zuständige Polizeiadjudant – das ist in Norwegen ein Jurist im Polizeidienst – Haakon Sand ihr alter Freund aus Studientagen ist. Weniger erfreulich, daß der bald darauf gefaßte und geständige Täter ausgerechnet auf Karen Borg als Verteidigerin besteht. Dieser junge Niederländer verliert nämlich im Gefängnis den Verstand und wird eines Tages erhängt aufgefunden. Damit gerät Karen Borg in eine üble Geschichte aus Mord, Drogenhandel und Bestechung, in der prominente Anwälte und hohe Regierungsbeamte eine wichtige Rolle spielen.

Beinahe hätte sie das das Leben gekostet. Wenn da nicht Polizeikommissarin Hanne Wilhelmsen wäre, die hartnäckig an eine Verbindung zwischen dem Mord an dem Unbekannten und der Erschießung eines Rechtsanwalts glaubt. Mit Glauben ist es aber in juristischen Verfahren nicht getan. Beweise sind gefordert, und genau daran fehlt es Wilhelmsen und Sand. Als alles schon verloren scheint . . . – das sei nicht verraten. Erwähnt sei nur, daß die Aufklärung des Falles eine Lawine lostritt, die selbst den Justizminister unter sich begräbt.

Die beiden Hauptfiguren in diesem Roman sind keine strahlenden Helden: Haakon Sand leidet an einem Minderwertigkeitskomplex, der durch die Begegnung mit der erfolgreichen Karen Borg, dem Objekt seiner unerwiderten Liebe, noch verstärkt wird; Hanne Wilhelmsen lebt zwar glücklich mit der Ärztin Cecile zusammen, fürchtet aber, daß ihr Lesbischsein entdeckt werden könnte.

Oslo, Schauplatz des Romans, wirkt in Anne Holts genauer topographischer Beschreibung, die ein wenig an Strindbergs Röda rummet erinnert, eher wie ein Dorf als wie die Hauptstadt eines skandinavischen Königreichs. Selbst die verwöhnte Anwältin legt ihre täglichen Wege bequem mit der Straßenbahn zurück, abends schneit man einfach auf ein Glas Wein bei Bekannten herein, und jeder kennt jeden mindestens vom Hörensagen. Anne Holts beschreibende Erzählweise, bei der die Lösung des Kriminalfalls manchmal in den Hintergrund gerät, macht das Buch zu einem Roman, der ein Panorama der norwegischen Gesellschaft zeichnet. Weniger ist in Skandinavien nach Sjöwall/Wahlöö wohl auch bei Krimis nicht mehr drin.

Iris Schneider

Anne Holt: Blinde Göttin; Edition Galgenberg bei Rasch und Röhring, 300 S., 36,– Mark

Daniel Douglas Wissmann: Dillingers Luftschiff

Dieses Buch ist geschrieben worden, um gelesen zu werden. Was natürlich zunächst einmal nicht sonderlich viel aussagt. Ergänzt man allerdings, daß der Autor nicht einfach Autor ist, sondern ein junger deutscher Autor (Alter: 32), dann gewinnt der Nullsatz eine gewisse Aussagekräftigkeit. Denn junge deutsche Autoren, das kennt man ja oder vermeint es doch zu kennen, vergraben sich in Mythen anstatt in Realien, lesen die Strukturalisten anstatt Hemingway und sind überhaupt viel zu dunkel.

Nicht so jedoch Daniel Douglas Wissmann. Der behauptet in seinem zweiten Roman (der erste war ein Krimi, hieß Die Königin der Bienen und ist im Kellner Verlag erschienen) Dillingers Luftschiff ganz unverfroren die Möglichkeit des einfachen, nicht doppelcodierten, nicht selbstreflexiven, nicht diskursgebundenen Erzählens. Und das ist ja nun wirklich eine Nachricht, über die man als komplizierter, nach Doppelcodierungen heischender, selbstreflexiver, den Diskurs verfolgender Leser (der wir ja alle sind) ganz gehörig erschrickt – bis man die Herausforderung annimmt und zu lesen beginnt, und sei es als sogenannte Urlaubslektüre, bei der man ja nicht jede Seite vor seinem intellektuellen Gewissen rechtfertigen muß.

Dafür, die gewohnte Höhe des literarischen Standpunktes verlassen zu haben, wird der Leser recht hübsch entschädigt. Die Hauptfigur ist der (Adoptiv-) Sohn eines Bestattungsunternehmers, ein Zirkus spielt eine gewisse Rolle, Südamerika auch, es gibt noch die eine, die lebenslängliche Liebe, das Schicksal hat seine Wirkmächtigkeit hier noch nicht verloren – tief, sehr tief greift der Erzähler in den Zauberkasten der Motive, fröhlich durchkreuzt er die Grenzen zwischen Literatur, Unterhaltung und Kolportage. Der Erzähler will hier nur eins: erzählen, und so häuft er Anekdote auf Anekdote, Beschreibung auf Beschreibung, Wendung auf Wendung. Und dem Leser bleibt nur eins: Er hechelt hinterher – und ist dem Erzähler stellenweise sogar dankbar dafür (wobei er über einige arg strapazierte Klischees vor allem im Geschlechtlichen dann aber doch hinwegsehen muß).

Richtig gelungen sind Daniel Douglas Wissmann vor allem einige Szenen im ersten Teil des Buches. Aus der Perspektive eines Achtjährigen nähert er sich da dem Erwachsenenleben und seinen großen, schweren Themen: dem Leben, dem Tod und dem Sex. In manchen Sätzen stecken da die ganz weit aufgerissenen Augen eines staunenden Kindes drin. Später dann mutet es einem manchmal ein wenig autistisch an, wie sehr der Autor allein auf die Erlebnisse seines Protagonisten setzt, aber das ist dann erst gegen Ende des Buches. Bis dahin hat man so viele hübsch verknappte Dialoge gelesen, so viele geschickt gebaute Wendungen und Kapitelanfänge, daß das Schmunzeln auch dann das Lesen noch trägt.

Tobias Meiner

Daniel Douglas Wissmann: Dillingers Luftschiff; Rowohlt Verlag, 420 S., 42,– Mark

Rainer Brandenburg: Nachrichten aus dem Post-Tiramisu

Die Glosse, so sagt uns das Lexikon, ist entweder eine spöttische Bemerkung oder ein polemischer Kommentar zu einem aktuellen Problem. Und Probleme gibt es bekanntlich genug, aber Rainer Brandenburg hat sich in seiner Sammlung mit dem bezeichnenden Titel Nachrichten aus dem Post-Tiramisu den Trendtrümmern einer fast vergangenen Ära und Schnipseln des bundesrepublikanischen „in“-Alltags angenommen.

Und das macht Spaß, da er sich nicht auf die Schiene eines Anklagenden mit Läuterungsforderung begibt. Er läßt den Leser vielmehr an einem persönlichen Spaziergang durch die Trend-Unwägbarkeiten teilhaben, hat dabei Spaß an Wortspielen und eigenwilligen Beobachtungen, lustig und intelligent von der ersten bis zur letzten Seite. Selbst in der Zeit der auslaufenden 68er-Ideale aufgewachsen, kommt er zu der Erkenntnis, daß sich „die Ära der universellen Antworten, der Gedankendome und der ideologischen Kathedralen“ dem vorläufigen Ende zuneigt und sich auf den „kurzfristig verwaisten Planstellen der einstigen Vordenker, Mahner und Zelebralartisten“ jetzt ein Heer von „Gebrauchsintellektuellen und Einwegautoren“ niedergelassen hat, „deren Programmatik sich darin erschöpft, uns mitzuteilen, welche rhetorischen Tricks selbst die unverschämtesten Gehaltswünsche Wirklichkeit werden lassen“.

Die Folge (eine davon zumindest) ist, daß sich „selbst Gurus für eine Teildisziplin entscheiden müssen, wenn sie nicht in den Ruf eines Breitbandschamanen geraten wollen“, in einer Zeit, in der die Stiftung Warentest auch für „Weltbilder und Endzeitmodelle“ herangezogen wird. Aber was will man erwarten, wo sich doch „die selbstherrlichen Altmeister im Vorruhestand befinden und die Macht an eine praxisbezogene Allianz aus Therapie, Dienstleistung, Gelbe Seiten und Do-it-your-self-Kultur“ abgegeben haben?

Brandenburg beobachtet seine Mitmenschen genau von jener Seite, von der aus sich das vermeintlich Individuelle als immer wiederkehrende Marotte herausstellt. Ob sie nun in Kolonnen das Camping-Glück genießen, oder zu Hauf Eigenheimbesitzer werden, den Trend des Seminarreisens zur individuellen Lebenserfüllung erheben oder sich dem Einkaufseldorado Ikea als Ganztags-Lustmekka hingeben, man entdeckt sich und seine Lieben wieder.

Michaela Pens

Rainer Brandenburg: Nachrichten aus dem Post-Tiramisu, Rotbuch-Verlag, 120 S., 12,90 Mark

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