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Hoffentlich brennt es überall

■ Der „Spiegel“ lädt in Berlin zum Hauptstadtgespräch

Die livrierten Einlasser des Schauspielhauses hatten es sehr spannend gemacht: Wer erst kurz nach sieben zur Veranstaltung eintraf, stand vor verschlossenen Glastüren, hinter denen die Glücklichen mit bedauerndem Schulterzucken auf und ab eilten. Erst als ein älterer Kollege mit meinem Lippenstift „Wir sind von der taz“ auf die Scheibe gekritzelt hatte, konnte man sich durchringen, die etwa dreißig Wartenden in den kleineren Konzertsaal zu lotsen, wo wir die Ereignisse auf großer Leinwand verfolgen konnten.

Der Spiegel hatte zu einem öffentlichen Gespräch zum Thema „Berlin – Hauptstadt im Wartestand“ eingeladen. Auf dem Podium saßen – neben den Moderatoren Stefan Aust und Michael Sontheimer – Klaus-Rüdiger Landowsky und Klaus Töpfer (CDU), Gregor Gysi (PDS), Edzard Reuter (Elder statesman mit guten Kontakten zur Industrie) und Franziska Eichstädt-Bohlig (Bündnis 90/Die Grünen). Etwa 2.000 Zuhörer waren erschienen, offenbar zu gleichen Teilen aus Ost wie West, die den anschließenden Schlagabtausch durch Pfeifkonzerte und Beifallsstürme anheizten, worüber übrigens auf dem Podium ungefähr eine Viertelstunde lang geredet wurde.

Es kam – entlang eines anarchischen Wildwuchses von Themen – zum Austausch der bekannten Erzählungen: Töpfer und Landowsky, die sich als Schlesien-Vertriebene, „begnadete Kneipengänger“ und Wiederaufbauer der ehemaligen Frontstadt Berlin gerierten, die der Stadt nun endlich zu einem angemessenen internationalen Status verhelfen wollten. Dagegen Gregor Gysi mit der Moritat vom Ostler, den man um seine Biographie gebracht und übervorteilt habe; Franziska Eichstädt-Bohlig mit der Figur von Zentrum gegen Bezirke, von den „Menschen“, die nicht „aktiviert“, sondern als Pankower und Zehlendorfer gegeneinander ausgespielt werden, und schließlich den Subventionen, die in blindem Metropolenrausch über halbseidenen Projekten ausgeschüttet worden seien. Dann Edzard Reuter, der für sich einen archimedischen Punkt außerhalb der Parteiinteressen beansprucht und als Kosmopolit sprach, der den Provinzlern zu beiden Seiten den Blick auf New York, die Integration der Ausländer anempfiehlt. Potsdamer Platz, Transrapid, Arbeitslosigkeit, Olympia, drei Opern, Forschung und Lehre, Berlin-Brandenburg – alles wurde in beliebiger Reihenfolge in diese Narrative eingespeist. Die Dramaturgie des Abends folgte dem Aufbau eines Spiegel-Artikels: viele alarmierende Nachrichten, viel Stimmung, wenig Analytisches, wie es sich bereits in dem Berlin- Artikel des Magazins mit dem Titel „Es brennt überall“ (14/97) angedeutet hatte. Entsprechend unzufrieden schlichen mehr und mehr Zuhörer davon. mn

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