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Kaufrausch in der Karibik

Wenn die Kolumbianer ins Inselparadies San Andrés fliegen, kommen sie nicht zum Sonnen. Ihre Devise: Kaufen, was die Koffer halten. Das Departamento de Ultramar ist Freihandelszone  ■ Von Marc Bielefeld

Die alte Boeing 727 der kolumbianischen Airline SAM ist ein erstaunliches Flugzeug. Erstaunlich, weil es fliegt. Der Anblick der Maschine ist nichts für Leute mit Flugangst. Beim Einsteigen sind der abgeblätterte Schriftzug und die Roststrähnen an Rumpf und Flügeln nicht zu übersehen. Auch die beiden verschwitzten, dickbäuchigen Piloten sehen nicht gerade vertrauenerweckend aus, wenn sie mit ihren tiefschwarzen Ray Bans und den abgewetzten Lederköfferchen die Maschine erst lange nach den Passagieren besteigen. Aber dennoch: Der restlos ausgebuchte Flieger hebt ab und nimmt Kurs auf San Andrés, die kleine kolumbianische Karibikinsel, 200 Kilometer östlich der nicaraguanischen Küste.

Was die Maschine von außen verspricht, hält sie von innen. Auf einem Sitz fehlen die Sicherheitsgurte, die Toilettentüren schlagen bei jedem Luftloch auf und zu, und der dicken, klunkerbehangenen Dame vorne links am Gang fällt jetzt schon zum zweiten Mal ihre halbleere Einkaufstasche auf den Kopf. Die vom Zigarettenqualm vergilbten Klappen der Handgepäckablage schließen nicht richtig. Da hilft nur eins: Blick aus dem Fenster und beten, daß Palmen und Landebahn von San Andrés bald in Sicht kommen. Der Flug vom kolumbianischen Festland auf die Insel dauert höchstens eine Stunde.

Nach der Landung läßt das ersehnte Insel-Feeling auf sich warten. Paßkontrolle und Zoll fordern Geduld. Der hagere Mann hinterm Schalter mit Sonnenbrille, Tarnanzug und Maschinengewehr vorm Bauch spricht zwar kein Wort, aber alle verstehen ihn: Hier drängelt niemand. Dafür hat man genügend Zeit, das mit Werbung zugetäfelte Flughafengebäude zu studieren. Irgendwie erinnert das Ganze an Berlins Ku'damm oder andere Einkaufsmeilen internationaler Großstädte. Der Marlboro- Cowboy reitet hier direkt neben den United-Colors-Gören des bekannten Klamottenkonzerns, und die goldene Rolex auf der bald zehn Meter langen Leuchtwand scheint die Besucher zynisch daran zu erinnern, daß in der Karibik die Zeit langsam und gemütlich verstreicht. Warten, warten, warten – vor langen Abfertigungsprozeduren hatte der Reiseführer ja schon gewarnt.

Endlich auf San Andrés! Dem Inselparadies, Schnorchelhimmel und Ort seliger Menschen, so der Reiseführer. Daß das 25 Quadratkilometer große Eiland unter kolumbianischer Verwaltung auch eine Einkaufshölle ist, steht nicht geschrieben. Doch das ist es in erster Linie. Die Flugzeuge kommen aus Bogotá, Medellin, Cali, Barranquilla, Cartagena oder Bucaramanga und bringen Kolumbianer mit leeren Koffern und vollen Portemonnaies. Seit seiner Ernennung zum Freihafen 1953 sind auf San Andrés Hotels, Casinos und besonders die Centros Comerciales – die Einkaufszentren – in den karibischen Himmel gewachsen. Begehrtester Blickfang in den unzähligen Ramschläden: die Preisschilder. Als einzige Freihandelszone Kolumbiens genießt die Insel den Vorteil, internationale Markenartikel wesentlich billiger verkaufen zu können. Über die hohen Steuern auf dem Festland können die Besitzer der berstenden Geschäfte nur lachen. Kein Wunder. Willige Kundschaft strömt von allen Seiten, täglich, das ganze Jahr und per preisbewußtem Pauschalangebot eingeflogen. „A la orden“ heißt es stets – „zu ihren Diensten“.

Die Taxifahrer sprechen kaum. Sie wissen ja eh schon, wohin sie die Leute fahren sollen: zur Avenida Colombia. Wenn die Reisenden auf der Prachtmeile der Insel entlangchauffiert werden, schaut keiner nach links. Da liegt das Meer. Die wahren Augenweiden reihen sich am rechten Straßenrand aneinander: Uhrenstände, Postkartenläden, Neonreklamen, Casinos, Hotels, Banken. Dazwischen Softeis-Buden und Fast- food-Restaurants. Und immer wieder las tiendas – die Geschäfte. Irgendwann versinken die Blicke der Festländer dann in dem Meer von Schaufenstern, wo in großen roten Lettern das Gebot der Insel verkündet wird: Rebajas – Ausverkauf, das ganze Jahr über.

Im Norden der Insel liegen die meisten Hotels. Das Angebot reicht von billigen Absteigen in verdreckten Hinterhöfen bis zu noblen Häusern direkt am Meer. Doch egal, wo man einkehrt, eines haben alle Pensionen, Hotels und Restaurants gemeinsam: kein Eingang, wo man nicht mit Broschüren, Prospekten und Touristeninformationen überschüttet wird. Die Flyers fliegen einem entgegen, noch bevor die Koffer abgestellt sind. Offertas hier, Prozente da: Ein Discount-Versprechen jagt das nächste. Die kleinen Gutscheine, Coupons und Bonusschnipsel sind Programm, um den Kunden in die Welt der Waren zu lotsen. Und die beginnt gleich bei den Hotels.

Was sich hinter dem Wort Freihandelszone verbirgt, ahnt keiner, der es nicht gesehen hat. Das Ausmaß des Kaufrauschs in der Karibik wird erst deutlich, wenn man das Viertel an der Avenida Colombia zu Fuß abgeht. Die Auslagen und Vitrinen quellen hier regelrecht über: Kameras, Toaster, Uhren, Mixer, CD-Player, Walkmen, Wecker so weit das Auge reicht. Wer genau hinsieht, entdeckt Exotisches. Etwa ein Neonlichttelefon, dekoriert in einem Reiskochtopf. Oder einen Taschenfernseher. Eine Taschenlampe mit Radio. Oder auch ein elektrisches Heizkissen für Menstruationsbeschwerden. Jetzt aber schlägt's dreizehn!: Ein Laden führt sogar Pelze. Es sei hier noch einmal ausdrücklich gesagt: Wir sind in der Karibik! Um daran erinnert zu werden, empfiehlt es sich, die klimatisierten Geschäfte gelegentlich zu verlassen, ein paar Schritte im Freien in Richtung Strand zu gehen. Das Wetter wurde dem Angebot- Nachfrage-Gesetz noch nicht angepaßt, die 28 Grad warme und feuchte Luft bringt jeden ins Schwitzen, der es nicht schon aus anderen Gründen tut.

Nun ist Masse nicht gleich Qualität. Das Schmeißen mit Produkten allein tut's nicht. Das wissen auch die Kolumbianer auf San Andrés. Markenbewußtsein und Prestige sind die Schlüssel zum zufriedenen Kunden. Deshalb ist jeder Laden auch ein „Distribuidor Exclusivo“ – ein Vertragshändler, Lizenzinhaber, Exklusivhändler. Wie auch immer, Hauptsache, die Reklametafeln und Logos der großen begehrten Marken sind gut sichtbar im Schaufenster plaziert. Von Gucci bis Lacoste, von Reebok bis Sony, von Calvin Klein bis Konsorten – die globalen Konzerne haben ihren Weg auch nach San Andrés gefunden. Übrigens: Wer zufällig auf die Idee kommt, sich eine Badehose zu kaufen, sollte unbedingt eine Kreditkarte einstecken. Sie ist das meistgenutzte Zahlungsmittel.

Seit San Andrés Freihandelszone ist, lebt die Insel fast ausschließlich vom Fremdenverkehr und ihrem Ruf als Paradies für Schnäppchenjäger. Grundstein für diese Entwicklung legte vor allem das visionäre Denken von General Gustavo Rojas Pinilla, einem ehemaligen kolumbianischen Präsidenten, der die Insel 1953 erstmalig besuchte. San Andrés hatte es ihm sofort angetan. Kurzum verlegte er Kabinettssitzungen auf die Karibikinsel und ließ San Andrés per Dekret der Militärregierung sogar drei Tage lang zu Kolumbiens Hauptstadt erklären. Damit begann eine neue Epoche. Der Flughafen und eine Inselrundstraße wurden gebaut, es folgten Hotels, Banken, Casinos, Restaurants. 1955 landete das erste Passagierflugzeug.

Heute gibt es in San Andrés alles, was das Herz begehrt. Baseballkappen zum Beispiel. Nur frisches Obst muß größtenteils teuer aus den USA importiert werden, ebenso viele andere Nahrungsmittel und Konserven.

Cheeseburger lassen sich eben schlecht mit einheimischem Fisch belegen. Wer den kommerzialisierten Norden einmal verläßt, trifft hier und da auf eine kleine Fischersiedlung, der man mit viel Phantasie den Eindruck abgewinnen kann, daß hier früher gefischt wurde. Auch abgeholzte Palmenschulen weiter im Süden sind von der Straße zu sehen. Früher gab es auf San Andrés viele Kokosnußplantagen. Alte Zeiten. Dafür hat sich auf der Insel heute allerdings ein vortreffliches Bildungssystem etabliert, das in Kolumbien als vorbildlich gilt. Fast alle Inselbewohner können rechnen, schreiben und lesen.

Zum Beispiel Preistafeln. Oder Zollbestimmungen. Oder Hotelbroschüren. Touristen-Guides. Oder den Slogan eines berühmten Sportartikelherstellers. Und sogar die Bedienungsanleitung eines japanischen Reiseweckers. Doch den werden die meisten nie brauchen. Denn eines verstehen viele Bewohner von San Andrés, auch ohne lesen zu können: Wer nicht im Norden wohnt, da, wo das Leben tobt und die Geschäfte laufen, bleibt arm. Dem bleiben nur die wenigen Strandabschnitte, wo noch kein Hotel steht, um ein erfrischendes Bad im Meer zu nehmen. Im Inselinneren leben viele Einwohner in alten Hütten, hocken ohne Arbeit am Straßenrand und gucken, wenn ab und an ein Tourist auf einem der beliebten Mietmopeds vorbeizischt.

Auf San Andrés ist alles per Gesetz geregelt. Kolumbianer vom Festland dürfen nur zweimal im Jahr kommen, um einzukaufen. Wer „nur“ zur Erholung anreist, darf kommen, sooft er will. Eine weise Vorkehrung der Verantwortlichen. Denn niemand weiß so recht, ob die inzwischen überbevölkerte Insel sonst zuerst bersten würde oder ob die Regale zuerst leergekauft wären.

Sonntag. Abreisetag. Die Taxis surren leise wie von Geisterhand gezogen reihenweise zum Airport. Daß die Stoßstangen gelegentlich den Asphalt kratzen, liegt wohl weniger an der weichen Federung als an den voll beladenen Kofferräumen. Auch die Dame mit den Klunkern steigt heute wieder in einen Flieger gen Festland. Man kann nur hoffen, daß die Gepäckablagen in diesem Flugzeug sicher schließen. Wenn ihr die Einkaufstasche auch auf dem Rückflug auf den Kopf kracht, geht es mit Sicherheit nicht glimpflich aus. Die ist jetzt verdammt schwer.

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