: Land des Lächelns
■ Kirchentag – gnadenlos freundlich Von C. Ruf + M. Scholz (Fotos)
Man kann ihnen einfach nicht böse sein, diesen notorisch gutgelaunten Menschen, die schon frühmorgens in Hundertschaften aus den Hamburger U-Bahnschächten quellen. Kein Weg ist ihnen zu weit, kein Chorgesang zu laut, kein Luftballon zu bunt. Die Luft ist gesättigt vom sanften Duft der Räucherstäbchen. Und auch wenn derzeit jeder Radweg in Zentrumsnähe von müßiggehenden KirchentagsbesucherInnen in Beschlag genommen ist, die Verwünschungen und Flüche bleiben deR grollenden RadfahrerIn im Halse stecken – so gnadenlos lieb ist dieses Lächeln, mit dem jedweder Pöbelei begegnet wird.
Dabei sind KirchentagsbesucherInnen kritische Geister, die mit wachem Blick den „Markt der Möglichkeiten“ durchstreifen. Der Infostand von „Leben/Überleben“ („geschiedene Frauen von Pfarrern ermutigen zum Neuanfang“) stößt auf ebenso großes Interesse wie das Infomaterial der „Togo-Freunde Hannover e.V.“ Grüblerische Mienen und bedächtiges Nicken begleiten die Ermahnung Reinhard Höppners, Christen dürften „keine Pegelstandsmesser der Sintflut sein“. Mit Engelsgeduld werden auch die weniger geistreichen Ausführungen des sachsen-anhaltinischen Ministerpräsidenten aufgenommen. So offenbart sich in dem von Höppner beobachteten „gegenwärtigen Abrüstungsprozeß“ das „Wort Jesu“.
Wo die Schritte deR KirchentagsbesucherIn auch hingelenkt werden – es herrscht bedrängende Enge. Doch diese hält die versammelte Christenheit ebensowenig davon ab, sich vor die „Messehalle sechs“ zu begeben, wie der permanent-penetrante Hamburger Nieselregen. Dort nämlich fordert Ex-Bundespräsident Richard von Weizsäcker dazu auf, die Parole: „Der Staat sind wir“ mit Inhalt zu füllen. Von dem tiefen Wahrheitsgehalt dieser Worte ist ein schwäbischer Kirchentagsbesucher derart gebannt, daß er nur durch ein unsensibles „Was wilssu?“ des Würstchenverkäufers an das Aufgeben seiner Bestellung erinnert werden kann.
Der Aktionsradius des Christenmenschen erschöpft sich aber mitnichten in kontemplativen Betrachtungen über den Sinn seiner Existenz. Das im „Markt der Möglichkeiten“ aushängende Transparent „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“ wird vielerorts ebenso mit Inhalt gefüllt wie die omnipräsenten Mehrweg-Teetassen. So wird die Greenpeace-Unterschriftenliste, die zum „Shell“-Boykott aufruft, gerne unterschrieben, für heute ist gar eine „Verkehrs-Aktion Mobil ohne Auto“ auf der Stresemannstraße geplant. Indes bleibt zu befürchten, daß die vorgesehene „Straßenbegehung“ bei Erscheinen des ersten Automobils wieder auf den Radwegen geführt wird.
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