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■ Deutschland bewirbt sich um die Fußball-WM 2006Hundertzwei Prozent sind dafür

Das bayerische Fernsehen trailerte schon vorab endsiegessicher „diesmal wollen wir wieder alles“, und wer angesichts solcher Allmachtsphantastereien zurückweicht, kann ja gerne Bergsteigen. Deutschland bewirbt sich momentan um die Ausrichtung der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 und ist beim Festakt im Prinzregententheater in München durch Waldemar Hartmann und Franz Beckenbauer wirklichkeitsnah repräsentiert. Jedoch, welch unzureichende Präsentation: Statt alles über Deutschland wurde eben doch nur „Deutschland über alles“ ausgerufen. Transportiert wurde dieses Anliegen mittels einer spröd-dilettantischen Halbwegsgala mit Schiller-Zitat am Anfang, Faust-Zitat am Ende, schlimmer Kunstkacke mittendrin, vielen Kindern obendrein und gutmütig bebenden Doppelkinnen im Publikum. Die wichtigsten Thesen und Beobachtungen im Überblick:

Dem Ämterhäufer Beckenbauer zuliebe wurde das Superamt „Präsident des Bewerbungskomitees“ erfunden. Die Wiedervereinigung bedeutet unendlich viel. Deutschland ist der friedliche Mittelpunkt Europas. Fußball ist die größte gesellschaftliche Bewegung in Deutschland; die Vereine haben mehr Mitglieder als die Gewerkschaften. Wir brauchen mehr Stadien. Eine Utopie ist etwas anderes als eine Vision. Franz Beckenbauer war als Präsident des Bewerbungskomitees sogar schon in Kuala Lumpur.

Der Sohn von Berti Vogts kann schon lesen, sein Vater sitzt dabei auf dem Sofa und guckt sich selbst in einem Bildband von 1974 an. Im Fußballverein lernt man ein bestimmtes Sozialverhalten. Franz Beckenbauer spielt mit Kindern in Zeitlupe und Sonnenschein Fußball, und deshalb nehmen die Kinder danach keine Drogen. Ein ICE braust durch den Be-Werbefilm und das steht für umweltverträglichen Hightechfortschritt, denn umweltverträglicher Hightechfortschritt ist stets die Kernthese in Werbefilmen, durch die ein ICE braust; meist ist Herbst in den Filmen, weil der Kontrast braunes Laub/weißer Schnellzug total geil und friedlich ist. Steffi Graf freut sich indes auf ein „ganz tolles Weltfest“. Die Bundesliga ist Heimat zahlreicher Ausländer. Christian Ziege sieht nur aus wie ein jugendlicher Kirchenanzünder, in Wahrheit schenkt er sogar Rollstuhlfahrern sein Trikot. Die Bundesliga steht tausendprozentig hinter der Bewerbung, was ja wohl das Tüpfelchen auf dem ICE ist. In der Begleitbroschüre äußern sich auch Scharping und Joschka Fischer wohlwollend, „alle tragen das also“, sagt Waldemar Hartmann und rechnet dann so: 79 Prozent aller Gesamt-Deutschen befürworten die Bewerbung, 9 Prozent ist das egal, also können die dazugezählt werden (!) und die restlichen 14 ... – na ja, die können halt zum Bergsteigen fahren, sagt wieder Beckenbauer, und damit sind wir zwar nicht bei tausend, wohl aber bei 102 Prozent Bevölkerungseinmischung, also quasi Überbevölkerung. Die einzelnen Segmente des Logo-Balls symbolisieren das Miteinander der Nationen. August Everding läßt Schauspielschüler fechten und Schwerwiegendes aufsagen, dazu wird percussioniert, und ein Junge bolzt eine Weltkugel ins Publikum. Trainer Vogts ist ein bißchen aufgeregt, wenn er neben Teamchef Beckenbauer steht, leiert eine satzzeichenlose Streberei herunter und läßt dabei mitunter der Kohärenz verpflichtete Satzbausteine weg, was Form und Inhalt aufwühlend gegeneinander aufhetzt.

Nachdem jedenfalls NSDAP und RAF hierzulande kaum noch Mehrheiten zu rekrutieren vermögen, ist Deutschland wieder reif und bereit für ein unbedenkliches Sportgroßereignis. 102%ig. Benjamin v. Stuckrad-Barre

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