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■ Die Handy-Kids sind der Schrecken aller AirlinesKein Flug ohne Angstschweiß

Peter Reichmann lebt auf der Sonnenseite des Lebens. Der gutgekleidete BWL-Student wohnt noch bei seinen Eltern in dem feinen Berliner Vorort Wannsee. Der Vater ist ein bekannter und erfolgreicher Baulöwe, die Mutter widmet ihr Leben karitativen Zwecken. Niemals ist Peter Reichmann ein Wunsch verwehrt worden. Sei es die pelzgefütterte Baseballkappe von Calvin Klein, sei es der erste Porsche zum 18. Geburtstag – Geld spielte keine Rolle. Trotzdem wurde aus ihm ein Handy- Kid, gefürchtet von allen internationalen Airlines.

Der große Kick kam für ihn 1994. Damals ging er auf ein Schweizer Internat und wollte seine Eltern in Berlin besuchen, um sich für ihr Weihnachtsgeschenk, ein tragbares Telefon, zu bedanken. Wie immer reiste er 1. Klasse mit der Lufthansa. Reichmann erinnert sich: „Es war auf dem Landeanflug. Ich spielte gedankenverloren mit dem Handy. Plötzlich liefen die Stewardessen panisch durch die Sitzreihen, der Pilot schrie ins Mikrofon, alle Handys sollten ausgeschaltet werden; die Maschine torkelte, und in den Gesichtern der Passagiere stand Todesangst. Aber ich fühlte nur, wie sich plötzlich meine innere Leere füllte mit der berauschenden Macht über Leben und Tod.“

Noch heute sagt Reichmann, dies sei der schönste Augenblick seines Lebens gewesen. Auf alle Fälle war es der Beginn seiner Karriere als Handy-Kid. Von nun an gab es für ihn keinen Flug mehr ohne Turbulenzen und Angstschweiß. Noch schlimmer: Bald fand Reichmann Gleichgesinnte in den Kreisen der Jeunesse dorée. Ob in Düsseldorf, Wiesbaden oder Hamburg – wer dazu gehören will, muß auch heute Handy-Kid sein.

Diese Erfahrung hat auch Marion Helmig gemacht. Sie ist Sozialarbeiterin in Wannsee und meint, das Klima in den Ghettos der Reichen würde das asoziale Verhalten der Jugendlichen fördern. Die menschliche Kälte sei in diesen Vierteln unvergleichlich hoch. Die Väter gingen für Geld über Leichen, die Mütter auch. Die Kinder würden mit Konsumartikeln kaltgestellt und müßten ohne positive Vorbilder aufwachsen. Kein Wunder, so Helmigs Fazit, wenn sie auf ihrer Suche nach Liebe zu radikalen Mitteln griffen.

Um der Entwicklung gegenzusteuern, wurde in Wannsee ein Handy-Kid-Programm aufgelegt. Damit die Streetworker die notwendige S-Klassen-Credibility bekommen, werden sie nicht nur in extrem teure Boss-Anzüge gesteckt, manchmal müssen sie auch mit ihren Schützlingen in den vornehmsten Restaurants der Stadt tafeln. Viele dieser Abende haben den Jahresetat eines normalen Jugendzentrums gekostet – und die Gesundheit von Streetworkern. Ein Mitarbeiter des Betreuungsteams ist seit mehr als drei Monaten krank geschrieben. Die Diagnose: Kaviar-Allergie.

Während Pädagogen ihr Leben einsetzen, spielen Fluggesellschaften die Gefahr herunter. Aus Angst vor Umsatzeinbußen wird die Existenz von Handy-Kids sogar geleugnet. Aber der „Wahrheit“ liegt eine interne Dienstanweisung der Lufthansa vor. Dort heißt es: „In letzter Zeit ist es immer wieder zu Handy-Alarm gekommen. Achten Sie vor allem auf jugendliche Passagiere in der ersten Klasse. Lassen Sie sich nicht von guten Manieren täuschen. Sie sind gefährlich.“

Peter Reichmann ist mittlerweile allerdings ausgestiegen. Schuld daran war seine Freundin Nathalie. Auch sie war ein begeistertes Handy-Kid. Dann buchte sie letztes Jahr einen Urlaub in der Dominikanischen Republik. Auf dem Rückflug stürzte das Flugzeug kurz nach dem Start ab. Nathalies Leiche wurde nie gefunden. Ihr Handy auch nicht. Volker Heise

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