: Spitzenfußball, anders interpretiert
„Die Zweifel gestrichen“: Die berühmt-berüchtigten deutschen Tugenden sichern Borussia Dortmund ein 3:1 gegen Juventus Turin und den Erfolg im Finale der Champions League ■ Aus München Matti Lieske
„Keine Frage, die Deutschen spielen Spitzenfußball“, sagte Marcello Lippi, der Trainer von Juventus Turin, nachdem seine hochgelobte Mannschaft im Finale der Champions League gegen Borussia Dortmund mit 1:3 verloren hatte. Die Beantwortung der Frage, was denn den deutschen Fußball so spitzenmäßig mache, überließ er seinem Dortmunder Kollegen Ottmar Hitzfeld: „Kraft, Einsatz, Siegeswillen.“ Die berühmt-berüchtigten deutschen Tugenden also, die nach der Europameisterschaft und Schalkes Uefa- Pokal nun auch den ersten Landesmeister-Cup seit mehr als 20 Jahren einbrachten. Eigenschaften, die es immer wieder ermöglichen, gegen wesentlich besser besetzte Teams am Ende als Sieger dazustehen.
Wer die bessere Mannschaft war im Olympiastadion von München, daran gab es schon nach wenigen Minuten keinen Zweifel. Juventus kombinierte schnell und präzise, beinahe mühelos schlängelten sich Alen Boksic und der unglaublich gute Zinedine Zidane, der gegenüber seiner schlappen Vorstellung bei der EM 1996 kaum wiederzuerkennen war, durch die Borussen-Abwehr, und wenn die Dortmunder mal am Ball waren, stürzten sie von einer Verlegenheit in die nächste, bis sie das gute Stück wieder loshatten. Von Möller keine Spur, Sammer in ständiger Panik, Sousa ohne Anspielstation, allein Heinrich und Chapuisat konnten sich manchmal durchsetzen. So gravierend war die Unterlegenheit der Borussen, daß die Fans jene Ecke, die Heinrich in der 30. Minute herausholte, bejubelten, als hätten ihre Lieblinge gerade ein Tor geschossen. „Ein Spiel der Episoden“ sei es gewesen, sagte Marcello Lippi später, und die für ihn entscheidende Episode war jene in der 10. Minute, als Vieri den Ball allein vor Torwart Klos ans Außennetz klatschen ließ. „Wären wir in Führung gegangen“, so Lippi, „wäre alles anders gekommen.“
Es folgte jedoch die nächste Episode, jene Ecke in der 30. Minute, bei der man den Dortmunder Anhängern eine gewisse Vorahnung nicht absprechen kann. Nach schlechter Faustabwehr von Keeper Peruzzi setzten die BVB-Spieler dem Juve-Wirbel die einfachste aller fußballerischen Varianten entgegen: Flanke – Tor. Riedle, erstaunlich frei, traf mit links und war darob ziemlich verdattert, hatte er doch in der Nacht zuvor genau jenes geträumt. Dieses Tor, meinte Hitzfeld später, habe „die Zweifel aus dem Kopf gestrichen“, ob man gegen Juve, das in vielen Aufeinandertreffen fast immer die Oberhand behalten hatte, tatsächlich gewinnen könne.
Zudem hatte Riedle noch weitergeträumt, einen Kopfballtreffer nämlich, den er vier Minuten nach der Führung auch pflichtschuldigst erzielte, weil die Turiner offenbar vergessen hatten, daß man bei Eckbällen besser ein Auge auf den sprung- und traumgewaltigen Stürmer hat. Die nächste Episode in Lippis fußballerischer Seifenoper war Zidanes Pfostenschuß kurz vor der Halbzeit. Ein Tor zu diesem Zeitpunkt hätte das Spiel auch nach Ansicht von Stefan Reuter möglicherweise „kippen lassen“.
In der zweiten Halbzeit wurde der Turiner Druck zunächst übermächtig, wiewohl sich die in die eigene Ballfertigkeit verliebten Juve-Stars immer dazu hinreißen ließen, eine Drehung zuviel zu vollführen und den Dortmunder Abwehrspielern das zu ermöglichen, was sie am besten können: in letzter Sekunde noch die Fußspitze an den Ball zu bekommen. Dennoch folgte in der 64. Minute Lippis Lieblingsepisode: Boksic trennte sich einmal rechtzeitig vom Ball, und der eingewechselte del Piero erzielte mit der Hacke das, je nach Geschmack, schönste oder zweitschönste Tor des Abends.
Danach nämlich kam der Auftritt des Lars Ricken, der bis dahin auf der Bank gesessen, dort aber zum Glück nicht geträumt, sondern sich den gegnerischen Torhüter angeschaut hatte. „Ich habe gesehen, daß er sehr weit vor seinem Tor steht“, berichtete Ricken später, „aber nicht geglaubt, daß ich in die Situation komme, dies auszunutzen.“ Ein Paß von Möller brachte ihn Sekunden nach seiner Einwechslung genau in diese Situation, und da wußte er, was in diesem Augenblick „für mich die beste Alternative war“: ein Heber, der über den festgewurzelten Peruzzi ins Netz segelte – ein Traumtor ohne Traum, eines, von dem jeder Fußballer träumt.
Für Hitzfeld „ein weiterer Big Point“ durch den designierten Schützen wichtiger Europacuptore, für Marcello Lippi die Abschlußepisode dieser Partie. Obwohl noch mehr als 20 Minuten zu spielen waren, war Juventus geschlagen. Kein Aufbäumen, keine Finesse mehr, nur noch hohe Bälle in den Strafraum, über die die kopfballstarken Dortmunder bloß lachen konnten. Die „beste Vereinsmannschaft der Welt“ (Beckenbauer) hatte aufgesteckt an diesem Abend, „an dem alles schiefging“ (Lippi), und auch die Juve-Fans hatten ihre Mannschaft aufgegeben und verließen scharenweise das Stadion. Der neue italienische Meister aus Turin mag über viele Tugenden verfügen, über die deutschen jedoch eher nicht. Spitzenfußball, das zeigte das Spiel im Münchner Olympiastadion, läßt sich eben auf verschiedene Weise definieren.
Juventus Turin: Peruzzi – Porrini (46. Del Piero), Ferrara, Montero, Juliano – Di Livio, Deschamps, Jugovic (72. Amoruso) – Zidane – Boksic (87. Tacchinardi), Vieri
Zuschauer: 59.000 (ausverkauft)
Tore: 1:0 Riedle (29.), 2:0 Riedle (34.), 2:1 Del Piero (64.), 3:1 Ricken (71.)
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