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Letters from ShanghaiNeulich im Zhongshan Park

■ Serienmörder und blühende Päonien: Presseaktualität auf chinesisch

Ein Foto auf der ersten Seite des Shanghai Star, dem zweimal wöchentlich erscheinenden Ableger der englischsprachigen Tageszeitung China Daily, informiert über ein lokales Ereignis: Das Modell des Tiananmen, des Tors des himmlischen Friedens, im städtischen Zhongshan Park habe die Aufmerksamkeit vieler Besucher auf sich gezogen. In der Tat wird sich in Tausenden Shanghaier Fotoalben, einschließlich des unseren, das Foto des Miniaturtores finden, virtuos nachgebildet aus knallroten Plastikregenschirmen, komplettiert durch das Mao- Porträt über dem Eingang, umblüht von heiteren Blumenrabatten in Knallgelb. Kein Mensch in China fotografiert jedoch ausschließlich die Sehenswürdigkeit, der Fotograf des Shanghai Star nicht und wir auch nicht.

Also fotografierten wir chinesische Ein-Kind-Familien, die ihr eines Kind, vorzugsweise einen Sohn, vor der Tiananmen- Kopie fotografieren. Der Weg durch den Garten, benannt nach dem Pseudonym des Nationalhelden Dr. Sun Yat-sen, führte dann notwendig zur Besichtigung der eben erblühten Päonien, Chinas Nationalblumen, die neulich erst in Pina Bauschs neuem Hongkong- Stück zur bühnenfüllenden Dekoration avancierten. Was der Shanghai Star jedoch erst in der nächsten Ausgabe berichtete – darin den Erfahrungswert bestätigend, daß die chinesischen Medien erst berichten, wenn die Neuigkeit bereits keine mehr ist, war hingegen die Tatsache, daß man sich nach Einbruch der Dunkelheit als Frau tunlichst nicht auf den gewundenen Wegen der Shanghaier Gärten, besonders im Norden der Stadt, bewegt hätte. In Shanghai ging ein Serienkiller um. Offenbar der erste seiner Art in dieser Stadt. Gebar nun also der Sozialismus mit chinesischen Charakteristika, der Einbruch von Kapital und Luxus auch klassische westliche Dekadenzerscheinungen, wie sie die Shanghaier Bevölkerung bisher nur aus den VCD-Raubkopien amerikanischer Filme kennen mochte? Die Gerüchte jedenfalls wurden täglich absurder, mal war der Mörder, der zehn oder zwölf oder siebenundzwanzig Frauen auf dem Gewissen hatte, ein Psychopath, von der Liebe enttäuscht und nun auf einem Rachefeldzug gegen die Frauen, die er angeblich mit einem nagelgespickten Hammer, aber jedenfalls immer von hinten angriff. Dann wieder sollte es eine ganze Gruppe sein, möglicherweise uighurische Separatisten, die Unruhe und Verwirrung stiften wollten. Schließlich präsentierte die Polizei den festgenommenen Raubmörder Wei Guangxi (26), einen Wanderarbeiter, der dreizehn Frauen mittleren Alters und einen älteren Mann attackiert und beraubt hatte. Zwei Opfer starben. Dann endlich berichteten auch die chinesischen Zeitungen. Der Shanghai Star war in jener Woche in seiner Berichterstattung sogar der International Herald Tribune voraus, aber etwas fehlte in dem Bericht: In einem Land, dessen restriktive Informationspraxis wochenlang Gerüchte kursieren läßt, glauben die Leute natürlich nicht daran, daß der wirkliche Täter verhaftet wurde. Also besser weiterhin dem Zhongshan Park bei Nacht widerstehen? Stephanie Tasch

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