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■ NormalzeitAlles Theater!

Meine in Paris lebende Tante, die in der Kocherei der Kaugummifabrik „Hollywood“ arbeitet, schwärmt noch heute von Hitler: „Der hat uns Arbeitern erlaubt, ins Theater zu gehen!“ Mich nahm einmal ein Klassenkamerad – nach dem „Zusammenbruch“ – mit ins Goethe-Theater. Ich schämte mich erst wegen meiner Anzuglosigkeit und meiner schwarzen Fingernägel und dann für die Mimen, weil sie derart schauspielern mußten (in Bremen ist so etwas ungehörig!). Und seitdem ist das Theater für mich primär ein Vergnügen von Leuten, die sich am liebsten „Elite“ nennen.

Das gilt nun auch im Osten – für Volksbühne, Berliner Ensemble und Deutsches Theater beispielsweise. Obwohl ich seit der Wende einen großen Bogen um diese Amüsierpöbel-Paläste mache, lernte ich neulich den Ost- Schauspieler, -Autor und -Regisseur Jörg-Michael Koerbl sowie seine Lebensbegleiterin, die Malerin und Bühnenbildnerin Anna Rother, kennen. Koerbl war früher Anschläger und Schiffsbeheizer auf der Volkswerft Stralsund gewesen, danach Friedhofsarbeiter beim VEB Stadtgrün in Berlin. 1978 erklärte er sich für „freischaffend“.

„Aha, notiere: wahrscheinlich ein Querulant“, meinte Bert Papenfuß, der uns bekannt gemacht hatte. Und tatsächlich steckte Koerbl voller witziger Gedanken. Danach las ich seine in den Sklaven Nr. 11, 14/15, 20/21, 22 und 23 abgedruckten Stücke: Dialoge zwischen Napoleon, Himmler, Hitler, Hannah Arendt, der RAF, Dostojewski und Dromedaren – für mich nichts als unengagierter Provostuß mittels Prominamen. Koerbls Stück „Adolf Hitler“ sollte neulich im BE aufgeführt werden. Zur Premiere hatten sich neben Medienschaffenden aus Westdeutschland, Spanien, Frankreich, Italien und England allein 16 Journalisten aus Israel angesagt. Der künstlerische Leiter Suschke sah sich die technische Probe an und setzte das Stück kurzerhand ab. Hinterher hieß es in der Berliner Presse: Zu viele Nazistücke! Suschke selbst hatte „Eva Braun“ inszeniert, am Gorki-Theater lief „Emmy Göring“, und an der Volksbühne rumpelt regelmäßig Schlingensiefs Faschopop.

Koerbl gilt als begnadeter Schauspieler: von seinen 80 Adolf-Hitler-Rollen wollte er 60 selber spielen, man sagt aber auch, er sei schwierig. Vor einiger Zeit sollte er bei Tragelehn die Hauptrolle in Müllers „Umsiedlerin“ spielen, dann arbeitete Suschke das Stück aber zu „Bauern“ um – und Koerbl war seine Rolle los. Zusammen mit Anna Rother zog er nach der Wende aus dem Prenzlauer Berg in ein Neubauviertel bei Hennigsdorf, an der Grenze zu Heiligensee, das gerade mit einem Yachthafen gekrönt wird. Koerbl will sich ein Paddelboot zulegen, erst einmal muß er aber wieder gesund werden. Anna Rother meint: „So 'ne Art Krankenschwester in der Nähe von Herrn Koerbl zu sein ist nicht einfach.“ Außerdem haßt sie Pflegedienste aller Art.

Papenfuß legte mir die These nahe: „Das BE macht lebende Autoren fertig!“ Anna Rother ergänzte: „Wenn die Premiere in'n Arsch gegangen wäre, ok, aber wir sind ja überhaupt nicht richtig zum Zuge gekommen.“ Ich riet Koerbl, mal was über die wirkliche Wirklichkeit zu schreiben: über die Volkswerft Stralsund, oder über ABM, 249h, 242s, den Betriebsübergang nach 613a usw. ... Aber doch nicht über so einen Quatsch wie RAF, Hitler, Stalin, Eva Braun, Arendt etc. – nur völlig bescheuerte Medienaffen könnten sich über solche Zirkusnummern gesundstoßen.

Koerbl hielt diesen Ratschlag jedoch für bloße Theaterignoranz eines Westlers und lächelte darob maliziös. Helmut Höge

wird fortgesetzt

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