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Mit 90 Jahren auf der Datenautobahn

Über ein halbes Jahrhundert lang leitet Vera Artisewitsch die Bibliothek in Saratow. Allen Wechseln von Ideologien und Systemen zum Trotz. Heute ist ihr Haus eines der größten in Rußland  ■ Aus Saratow Klaus-Helge Donath

„Mir fehlt die Muße, um im Internet zu surfen“, bedauert Vera Artisewitsch, „den Tag verbringe ich damit, Geld für unser Haus aufzutreiben.“ Die Direktorin der Universitätsbibliothek in Saratow wirkt keineswegs resigniert, auch diesem Job gewinnt sie noch Reiz ab, wie ihr spitzbübisches Schmunzeln verrät.

Kein Wunder, denn als Akquisiteurin legt Vera Alexandrowna bemerkenswertes Geschick an den Tag. Was in den meisten Bibliotheken Rußlands noch wie ferne Zukunftsmusik klingt, ist in Saratow längst Selbstverständlichkeit: Computer haben Einzug gehalten und die Bibliothek ist ans Netz gegangen. Ihre persönliche Post verschickt Vera Alexandrowna schon seit Jahren per E-Mail in alle Welt. Saratow – eine Oase des Fortschritts.

„Wer nicht mit der Zeit geht, wird sehr schnell alt“, erläutert die grande dame des russischen Bibliothekswesens. Eisern hat sie diese Lebensmaxime befolgt. Wer, wenn nicht sie, wüßte besser, wovon die Rede ist. Vor kurzem feierte Vera Artisewitsch ihren 90. Geburtstag. Von einem Jubiläum möchte sie indes nichts wissen. Noch sei die Zeit nicht reif, um selbstzufrieden Rückschau zu halten.

Ihren Geburtstag nutzte sie, um endlich mal wieder mit ihren Kollegen ausführliche Gespräche zu führen und Pläne zu schmieden. „Früher, noch zu Sowjetzeiten, haben wir uns mehrmals im Jahr getroffen“, erzählt sie ohne zu klagen, „jetzt reicht dafür das Geld nicht.“ Die zierliche alte Dame geht auch heute noch mit der Energie eines sowjetischen Kraftwerks an die Arbeit. Jeden Morgen gegen neun Uhr erscheint sie in der Bibliothek. Fahrer Wolodja bringt sie hin. Selten kommt sie vor 18 Uhr nach Hause. Dann setzt sie sich hin, um in Ruhe Korrespondenzen zu beantworten oder Fachartikel zu schreiben.

„Wer etwas auf die Beine stellen will, findet immer Mittel und Wege, wer hingegen lieber nichts tut, erfindet Ausreden“, faßt sie ihre Lebenserfahrung griffig zusammen. Jede Epoche, wie unwirtlich sie auch immer gewesen sein mag, habe schließlich kreative Menschen hervorgebracht. Vera Alexandrowna meint damit sehr wohl auch sich selbst. Sie ist stolz auf ihre Leistung, falsche Bescheidenheit ist ihr fremd. Die Augen funkeln, wenn sie von ihrem Jahrhundertwerk erzählt. Bisweilen hält sie inne, um eine anerkennende Replik abzuwarten. Ist sie mit der Reaktion des Zuhörers zufrieden, kann es weitergehen.

Die leidenschaftliche Bibliothekarin ist ein Musterkind der Oktoberrevolution, deren ethischen Anspruch sie mit Haut und Haar verinnerlicht hat. Gleichheit und Gerechtigkeit, vor allem Bildung für alle. „Lernen, lernen und nochmals lernen“, predigte Revolutionsführer Lenin. Daran hält sie fest, auch nachdem die kommunistische Wirklichkeit längst prinzipienlose und heuchlerische Züge offenbart hatte. Und ihr Glaube an einen Wandel zum Besseren erlosch nie. „Der Fortbestand einer Zivilisation hängt von der Liebe zur Arbeit ab“, erwähnt sie mehrmals. Es klingt, als hätte Lenin ihr die Losung persönlich mit auf den Weg gegeben.

1913 verließ die Familie das ukrainische Odessa und zog nach Blagoweschensk im Fernen Osten des zaristischen Reiches an der Grenze zu China. Arbeitskräfte wurden damals gesucht, um das Land urbar zu machen. Veras Mutter unterrichtete in einer Grundschule, der Vater zog 1914 in den Krieg und fiel. Die Tochter war auf sich allein gestellt. Sie besuchte das Gymnasium und versorgte den Haushalt. Hier habe sie gelernt, Verantwortung zu übernehmen.

Die Mutter hatte rund um die Uhr in der Schule alle Hände voll zu tun. Ein üppiges Leben war beiden nicht beschieden. Zumal Lehrer vor der Revolution einen schweren Stand hatten. Sie verdienten nicht nur wenig, auch Anerkennung blieb ihnen versagt. Adel und Bildungsbürgertum schauten auf sie hinab, weil sie Bauern und Arbeiter lehrten, was ohnehin „jeder wußte“. Die Landbevölkerung indes begegnete den zugereisten Fremden mit Mißtrauen.

Vera begrüßte begeistert die Revolution, die Aufklärung und Bildung der breiten Masse auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Sie zog mit Büchern und Unterrichtsmaterial von Fabrik zu Fabrik und nahm an der Alphabetisierungskampagne teil.

Während sie erzählt, springt Vera Alexandrowna auf und läuft zu ihrem klotzigen Schreibtisch. Aus einem Stapel Papier fischt sie ein gelbstichiges Foto heraus: „Der Kongreß der Mitarbeiter der Volksbildung im Amurgebiet 1925. Ich war kaum 18 und schon Delegierte“, sagt sie und reckt selbstbewußt den Kopf. Jeden der ehemaligen Kollegen kennt sie noch mit Namen und Funktion. Ein phänomenales Gedächtnis? „Methode ist die Mutter jeder Gedächtnisleistung“ kommentiert sie nüchtern. Sie neigt zu Sentenzen.

Wenig später, im Jahr 1929, verschlug es sie nach Saratow an der unteren Wolga. Der Jugendverband der Kommunistischen Partei schickte die junge Komsomolzin in die Bibliothek. 1932 übernahm sie deren Leitung. Lenins Witwe Nadeschda Krupskaja hatte zuvor Veras Einsatz als leuchtendes Beispiel der jungen Generation öffentlich gelobt.

Auf dem Direktorensessel erlebte sie alle Perioden der stürmischen Geschichte: Kollektivierung, Industrialisierung, Säuberung, den Zweiten Weltkrieg, Wiederaufbau, Stagnation, Gorbatschows Perestroika und schließlich Jelzins neues Rußland. Wie konnte sie Zeiten, in denen Führer und Ideologien wankten und stürzten, unbeschadet überstehen? „Mit Charme, Wissen und unermüdlichem Einsatz“, erklärt sie lapidar. Reichte das als Schutz? Man habe sie nicht angerührt.

Ihre Rede wird stockender, sobald sie von den stalinistischen Säuberungen der 30er Jahre spricht. „Und wie sie bei uns gewütet haben!“ sagt sie kurz. Einigen Verfolgten habe sie helfen können. Deren spätere Dankschreiben hat sie fein säuberlich aufbewahrt und griffbereit in der Schreibtischschublade. Dort befindet sich auch ein Telegramm an Freunde in der Tschechoslowakei vom August 1968, wenige Tage vor dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag. „Gott sei Dank hab ich ihnen vor der Besetzung geschrieben, daß ich nicht komme. Mein Mann war schwer erkrankt“, sagt sie entrüstet, als wäre es gerade gestern gewesen. „Sie hätten womöglich geglaubt, ich stünde hinter der Sache.“

Mit ihrem Ehemann Boris Fenjuk, einem Zoologieprofessor, muß es des öfteren zu politischen Auseinandersetzungen gekommen sein. Besonders im Kriegsjahr 1941, als sie das Rektorat der Universität Saratow übernahm. Man hatte sie händeringend gebeten. Die meisten Wissenschaftler befanden sich an der Front. Rektor konnte nur werden, wer auch Parteimitglied war, und so trat Vera in die KPdSU ein, was ihrem Mann offenbar mißfiel.

Gedankenverloren, wie mit sich selbst im Zwiegespräch, murmelt sie: „Die Fehler des Systems hat er früher, viel klarer erkannt. Er wollte nicht gegen sein Gewissen handeln.“ Er hinderte seine Frau aber auch nicht, Sohn Alexander in „sozialistischem Geist“ zu erziehen. „Mein Sohn orientierte sich an mir, ich war wohl für ihn ein Vorbild“, sagt sie zögernd, beinah abwesend. Einen winzigen Moment lang wirkt sie verunsichert.

Vera Alexandrowna verließ die Kommunistische Partei 1991, als orthodoxe Kräfte gegen den sowjetischen Präsidenten Gorbatschow putschten. Hat sie ein Leben für die Partei oder für die Sache geführt? Sie würde darauf bestehen: für die Sache, die Bibliothek und die Bildung. Ihr bescheidener Lebensstil mag als Beleg gelten, Privilegien hat sie nie in Anspruch genommen. Erst Ende der 50er Jahre zog sie in eine geräumige Dreizimmerwohnung um. Bis dahin hatte die vierköpfige Familie in einer „Kommunalka“ gehaust. „Kommunalkas“ waren sowjetische Gemeinschaftswohnungen, in der jeder Familie ein Zimmer zustand, Küche und Toilette von allen Mietern gemeinsam genutzt wurden. „Für 28 Leute gab es eine Toilette, bis zur Küche waren es 30 Meter zu laufen.“

Ende der 40er Jahre trieb sie den Neubau der Saratower Bibliothek voran. Wenn sie davon berichtet, ist die alte Dame in ihrem Element. „Damals den Bau einer Bibliothek bewilligt zu bekommen, als das ganze Land in Schutt und Asche lag, war schon eine Leistung“, sagt sie.

Als Schülerin hatte sie eigentlich Architektin werden wollen. Der Bibliotheksneubau bot die Chance, ihren Traum zu verwirklichen. Vom Entwurf bis zur Ausführung hat sie das Projekt federführend geleitet, manchmal auch zu Spaten und Kelle gegriffen. Die Bibliothek ist ihr Kind und sie die unbestrittene Hausherrin. Besucher und Mitarbeiter begegnen ihr geradezu ehrfurchtsvoll. In Rußland, wo ruppiger Umgang allgemeine Verkehrsform ist, ist das eine ausgesprochene Seltenheit.

Den entscheidenden Leuten in Moskau blieb das Organisationstalent der Direktorin natürlich nicht verborgen. Mit ihr hätte man sich schmücken können. Sollte man sie in der Provinz versauern lassen? Mehrfach versuchten die verantwortlichen Stellen in Moskau, sie mit Posten an renommierten Bibliotheken in Moskau und St. Petersburg zu locken. Vera Alexandrowna schlug alle Angebote aus.

Sie ahnte damals, worauf sie sich einlassen müßte. Die Direktoren der großen Bibliotheken waren Anfang der 50er Jahre der antisemitischen Hetzkampagne gegen die „Kosmopoliten“ zum Opfer gefallen. Hätte sie die Offerten angenommen, wäre sie zur Mittäterin geworden. Vielleicht hatte auch ihr Mann einen gewissen Einfluß. Außerdem konnte sie in Saratow unabhängiger walten. Was sie auch tat. Die dortige Bibliothek ist heute nach Moskau und Petersburg die drittgrößte im Lande.

Bei Vera Alexandrowna zu Hause stapeln sich Dokumente und Bücher. Auf den Bücherborden zwischen der schützenden Glasscheibe und den Buchrücken haben sich über die Jahre Utensilien und Banalitäten angesammelt. Auf diesem winzigen Raum stellte die sowjetische Intelligenz ihre Leidenschaften und Vorlieben zur Schau. Die Vitrine war die eigentliche Visitenkarte des Wohnungsinhabers, nicht dessen Bücher, die ohnehin fast jeder besaß.

Eine rauchende Edith Piaf hängt an der Innenscheibe umringt von Zeitungsausrissen, Porzellanfigürchen und einem großen Porträt des russischen Schriftstellers Konstantin Fedin, mit dem die Direktorin über viele Jahre hinweg eine enge Freundschaft verband. Und dies, obwohl Fedin als Erster Sekretär des Sowjetischen Schriftstellerverbandes die Veröffentlichung des Romans „Doktor Schiwago“ von Boris Pasternak verhinderte und Alexander Solschenizyns „Krebsstation“ nicht erscheinen ließ.

Vera Alexandrowna hat sich wie kaum jemand anders um die Bildung der breiten Masse verdient gemacht. In der neuesten Ausgabe von „Who's who“ läßt sich das genauestens nachprüfen. Sie gehörte aber auch zu jenen, die vorgaben, was unter Kultur zu verstehen ist – und was nicht.

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