: „Arbeiten für'n Appel. Ohne ein Ei“
Viele Arbeiter und Angestellte kommen mit ihrem Lohn gerade mal über die Runden. So das Ergebnis der ersten wissenschaftlichen Untersuchung der Fachhochschule Frankfurt/M. ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt
Frankfurt/Main (taz) – Reicht der Lohn zum Leben? Diese Frage stellte der Sozialwissenschaftler Rainer Roth von der Fachhochschule Frankfurt zwei Jahre lang 211 Arbeiter- und Angestelltenhaushalten. Das Fazit dieser nicht repräsentativen Studie, die von 1992 bis 1994 lief: Bei mehr als einem Viertel reicht das Haushaltsnettoeinkommen gerade mal so eben zum Überleben.
Aber, sie hätten als voll Erwerbstätige einen Anspruch auf Sozialhilfe, denn ihr verfügbares Einkommen unterschreitet die für den Leistungsanspruch vorgegebene Nettolohngrenze. Für eine(n) Alleinstehende(n) sind das zur Zeit 1.536 Mark, für ein Ehepaar mit einem Kind 2.481 Mark.
„Arbeiten für'n Appel ohne Ei“, nennt das Erika Behn, die Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen in Deutschland (BAG-SHI). Die Erhebung von Roth, sagte Biehn gestern, sei eine Bestätigung für die von der BAG-SHI schon lange vertretene These von einer rapid ansteigenden Armut unter Erwerbstätigen. „Working poor“ heißt dafür der Fachberiff bei den Sozialwissenschaftlern.
Allerdings kontaktiert nur jeder zehnte Arbeitnehmerhaushalt, der Anspruch auf Sozialhilfe hätte, auch tatsächlich die Sozialämter. „Scham und Unwissenheit“ seien dafür die ausschlaggebenden Faktoren, sagte Roth. Doch auch bei den Haushalten, die über ein Nettoeinkommen verfügen, das über der Bemessungsgrundlage für den Sozialhilfebezug liegt, reiche das Einkommen oft nicht für den ganzen Monat.
Wer mit seinem Haushaltseinkommen nur bis zu 25 Prozent über der Bemessungsgrenze für den Sozialhilfebezug liege, der lebe eigentlich „wie ein Sozialhilfeempfänger“ – vielleicht noch mit Auto und einer jährlichen Urlaubsreise. Wie viele Haushalte in der Bundesrepublik sind davon betroffen? „Geschätzt etwa 30 bis 40 Prozent“, sagte Roth.
Deshalb müsse festgestellt werden, daß Erwerbstätigkeit heute häufig nur eine Form der Armut sei, anstatt aus der Armut herauszuführen. Betroffen seien vor allem Haushalte von ArbeiterInnen und kleinen Angestellten. Einige der von Roth befragten Haushaltsvorstände haben beim Ausfüllen der Fragebogen akribisch ihre Einnahmen und fixen Ausgaben (Miete, Raten etc.) gegeneinander aufgerechnet und dabei offengelegt, daß den Familien oft nur noch 400 bis 600 Mark im Monat zum Leben bleiben. 20 Mark am Tag für alle Lebensbedürfnisse. „Da gibt's am Monatsende nur noch Pellkartoffeln mit Quark oder Nudeln mit Tomatensoße“, schrieb etwa ein 36jähriger verheirateter Schweißer mit zwei Kindern. Und auch eine 28jährige alleinerziehende Verwaltungsangestellte mit zwei Kindern ist schon froh, „wenn immer alle satt werden“.
„Working poor“ werde wegen politischer Fehlentscheidungen für immer größere Teile der arbeitenden Bevölkerung zur Realität, prophezeite Erika Biehn. Ebenso wie Roth forderte sie „Mindestlöhne über dem durchschnittlichen Sozialhilfeniveau als Grundsicherung für Erwerbstätige“. Den Tarifparteien empfahlen sie: „Überproportionale Anhebung der unteren Löhne.“
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