: Go East – gen Leipzig
Erstmals nach der Wende findet der Evangelische Kirchentag in Ostdeutschland statt. Die Losung heißt: „Auf dem Weg der Gerechtigkeit“ ■ Von Jan Feddersen und Annette Kanis
Ostdeutsche Politiker müssen noch viel lernen. Vor allem solche, die der CDU zuneigen. Da ist zum Beispiel Arnold Vaatz, Umweltminister in Sachsen. Wenn er doch bloß gefragt hätte! Dann hätten ihm seine westdeutschen Parteifreunde gesteckt, daß es auf einem Evangelischen Kirchentag nur eine Sünde gibt: Knüpfe nie eine Bedingung an eine Teilnahme! Und verschmähe Einladungen nicht, sondern zeige dich zumindest offen und interessiere dich redlich!
Der eigenwillige Christdemokrat hat nun endgültig seine Teilnahme am Schlußgottesdienst im Leipziger Zentralstadion abgesagt. Der Grund: Heino Falcke soll dort predigen – was Vaatz nicht hinnehmen wollte, weil der Erfurter Theologe im Frühjahr die „Erfurter Erklärung“ mit unterzeichnet hatte. In der stand zu lesen, daß Deutschland eine andere Politik brauche – was leicht als Kritik an der Bonner Regierung zu entziffern war und ist.
Und da ist Arnold Vaatz ganz empfindlich. Doch das Kirchentagspräsidium belehrte den CDU- Politiker aus Dresden kühl: Man wolle auch im Osten wie all die Jahrzehnte zuvor im Westen an der Tradition festhalten, niemanden auszugrenzen. Und wer die Predigten halte, lasse man sich schon gar nicht vorschreiben.
Auch einige der vor Jahresfrist zur CDU konvertierten Bürgerrechtler haben offenkundig die Spielregeln dieses Festes nicht verstanden. Dringlich baten sie kürzlich die Leitung des Kirchentages, Roland Wötzel auszuladen. Der war schließlich einmal SED-Bezirkssekretär in Leipzig. Wötzel soll am Donnerstag an einer Diskussion über „Versöhnung und Gerechtigkeit“ teilnehmen. Sachsen-Anhalts SPD-Ministerpräsident Reinhard Höppner, im sonstigen Leben Theologe und bei dieser Veranstaltung selbst dabei, beschied die Kritiker, daß er es zumindest mit dem Versuch der Versöhnung ernst nehme. Kurzum: Wötzel ist selbstverständlich willkommen. Die Kirchentagsleitung fügte noch hinzu: Wer nicht kommen will, muß nicht kommen.
Nichts als kleine politische Scharmützel, die die 100.000 nach Leipzig reisenden Menschen bestenfalls am Rande berühren werden. Ihre Erwartungen an den ersten Evangelischen Kirchentag nach der Wende, der im Osten der Republik stattfindet, sind hoch. Kirchentagspräsident Rainer Meusel will vor allem die „Wiedervereinigung in den Köpfen“ fördern. Er hofft auf eine Solidarisierung zwischen west- und ostdeutschen Christen. Daß dafür nur fünf Tage Zeit bleiben, ficht den Juristen Meusel nicht an: „Zumindest können wir anfangen Barrieren und Vorbehalte abzubauen. Vielleicht läßt die Unerfahrenheit im Umgang miteinander etwas nach.“
Dabei bildet die Aufarbeitung der jüngeren deutschen Vergangenheit nur einen Schwerpunkt der Christentage in Leipzig. Doch Rainer Meusel möchte keine deutsch-deutsche Nabelschau. „Auch die soziale Frage, in Europa, in der Welt, wird im Mittelpunkt stehen.“ Dafür, daß das Großereignis der Protestanten kein westdeutsches Spektakel vor ostdeutscher Kulisse wird, haben die Veranstalter vorgesorgt. Das seit zwei Jahren aktive Organisationsteam ist paritätisch mit Ost- und Westdeutschen besetzt. Themenvorschläge aus dem Osten prägen das Programm. Dafür tourte Kirchentagsmitarbeiter Dieter Kahle im vorigen Jahr durch die fünf ostdeutschen Bundesländer und befragte Ministerpräsidenten, Jugendliche, Rentner, Sozialarbeiter und Pfarrer nach „wichtigen Problemen der Region“. Gewünscht wurden Themen wie diese: die Rolle der Kirche in einer säkularen Umwelt, Auswirkungen wirtschaftlicher Probleme, Kampf gegen soziale Ungleichheit und christliche Wertevermittlung.
Dialogische Momente, übernommen aus der ostdeutschen Kirchentagstradition, wurden in das Programm eingebaut. So sollen Runde Tische und die „Halle für Nachgespräche
dafür sorgen, daß die Teilnehmer besser ins Gespräch kommen.
Aus der DDR-Tradition herübergerettet ist auch der integrierte Kinderkirchentag. „Schnupperkirche“ nennt sich die Angebotspalette für jüngere Besucher, um die sich die Organisatoren in diesem Jahr besonders bemühen. Für sie kostet die Dauerkarte nur fünf Mark. Die Schulen wurden im voraus mit Vorbereitungsmaterial versorgt.
Doch auch bei den Erwachsenen will die evangelische Kirche Überzeugungsarbeit leisten. Und das muß sie auch: Die Kirche feiert sich in einer Region, in der ganze 16 Prozent der Menschen getauft sind. „Missionarische Vereinnahmung“ weisen die Kirchentagsoberen indes von sich. „Es geht zuerst darum, Hemmschwellen gegenüber dem christlichen Glauben abzubauen“, so Rainer Meusel. Mission light also.
Absehbar aber ist, daß es doch ein Thema geben wird, das alle Kirchentagsbesucher – wie auch die übrigen Christen in der Bundesrepublik – am meisten berühren wird: das der wachsenden Armut im Lande, das des auseinanderfallenden Gemeinwesens und das einer herrschenden Politik, die hierfür keine Lösungen parat hält. Insofern gastiert der Kirchentag am rechten Platz: im Osten, dort, wo die Hoffnungslosigkeit am größten ist.
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