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Keine Mordwaffe im toten Körper

Der Atommeiler Krümmel bei Geesthacht, die Leukämie in der Elbmarsch, die Experten und die Politiker: Eine Anhörung in Kiel über Glauben und Indizien  ■ Von Heike Haarhoff

Die fünf Geschworenen, vier Männer und eine Frau, wirken erschöpft. Den ganzen Nachmittag schon haben sie vor und mit rund 150 Menschen, die man wohl der atomkritischen Öffentlichkeit zuordnen würde, im Kieler Universitätssaal über kindliche Leukämien rund um den Atommeiler Krümmel und deren mögliche Ursachen diskutiert. Wissenschaftlich sind sich Inge Schmitz-Feuerhake, Physikerin aus Bremen, Hayo Dieckmann von den Internationalen Ärzten für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) aus Lüneburg, Horst Kuni, Marburger Nuklearmediziner, Otmar Wassermann, Kieler Toxikologe, und Edmund Lengfelder, Münchner Strahlenbiologe, längst einig: „Alle Indizien sprechen dafür, daß es Krümmel ist.“Danke, sagt der Privatfernsehsender und verschwindet.

Jetzt gilt es, das politische Urteil zu fällen. Hayo Dieckmann kramt das Papier hervor, das die Beschuldigten des Wortbruchs überführen soll. Auf der Bank vorn im Hörsaal nehmen zwei Männer Anfang 40 Platz. Voigt, Willfried, Energie-Staatssekretär. Steenblock, Rainder, Umweltminister. Parteizugehörigkeit: grün. Politischer Wirkungskreis: Schleswig-Holstein. Der Vorwurf: ein „bemerkenswerter Erkenntniswandel“seit ihrem Wechsel aus der bündnisgrünen Opposition in die Regierungsverantwortung im Frühjahr 1996.

Das Tribunal ist eröffnet. „1995 machte er sich gegen Krümmel stark.“Hayo Dieckmann nickt in Richtung Voigt. „Die Gefahr reicht, das Atomkraftwerk stillzulegen“, zitiert der Arzt Worte, die der damalige Wahlkämpfer zu Papier brachte. „... hat behauptet, die Indizienkette sei geschlossen. Heute“, der Tonfall schwankt zwischen Provokation und Enttäuschung, „heute stellen sich die Grünen in der Regierungsverantwortung vor die Betreiber.“

Willfried Voigt kennt diese zermürbende Situation von Endlos-Diskussionen mit der Basis. Räumt ein, daß „in der atomrechtlichen Arbeit Fehler waren“. Bedauert, daß das „beschriebene Besorgnispotential eben nicht hinreichend war“für die Stillegung. Erzählt von der bitteren Erkenntnis, die schon so viele ausstiegswillige Politiker vor ihm gemacht haben: daß das Bundesatomrecht zu hart ist, als daß es auf Landesebene zu spalten sei. Rainder Steenblock springt ihm zur Seite. Warnt davor, die Diskussion in eine „Verräterdebatte“abdriften zu lassen. Mahnt zur „Toleranz“. Der erklärte regierende Ausstiegswille „gilt weiter“.

Spöttisches Gelächter, dahingenuschelte Beleidigungen im Saal. Es ist verfahren. Trotzdem verläßt niemand das „Experten-Hearing“der IPPNW am vorigen Donnerstag. Denn so unbeliebt Voigt und Steenblock bei den fünf Wissenschaftlern aus den niedersächsischen und schleswig-holsteinischen Leukämie-Kommissionen mittlerweile sein mögen – sie brauchen sie. Noch. Denn einer aus ihren eigenen Kommissionsreihen, der Siegener Hämatologe Werner Gaßmann, behauptet neuerdings „und nach fünf Jahren Schweigen“für den Münchner Strahlenbiologen Lengfelder „schier Unglaubliches“: Die gehäuften kindlichen Leukämien rund um Krümmel, will Gaßmann nach der Auswertung von Hiroshima-Vergleichsdaten herausgefunden haben, gehörten zu einer Blutkrebsart, die nicht durch Strahlen verursacht würde.

Wenn das stimmt, fiele jeglicher Verdacht von Krümmel ab. Die ständige Angst vor Neuerkrankungen bei der Elbmarsch-Bevölkerung aber bliebe. Und Lengfelder, Schmitz-Feuerhake und Co. stünden vor dem Dilemma, ein ganzes Jahrzehnt ihrer wissenschaftlichen Karriere einem Irrglauben angehangen zu haben. Das kann, das darf nicht sein. Internationale Literatur wird bemüht, Hiroshima-Studien werden zum gegenteiligen Beweis herangezogen. Schließlich kommt es immer darauf an, wie man die Daten interpretiert. „Ich hielte es für ein Verhängnis, wenn die These, die Leukämien seien nicht strahleninduziert, einfach so im Raum stehen bleiben würde“, ruft Horst Kuni erregt. „Es wäre schlimm, wenn dadurch das Risikobewußtsein in der Bevölkerung sinken würde.“Schmitz-Feuerhake will „endlich Zugang zum AKW. Wer nichts zu verbergen hat, kann die Tore öffnen“.

Der atomfreundliche Gemeinschaftsausschuß Strahlenforschung (GAST) aus Essen widerspricht und diffamiert Kuni und Kollegen per Fax als „unwissenschaftliche Geisterfahrer“. Die atomkritische Gesellschaft für Strahlenschutz aus Münster kontert ebensowenig erhellend: „Die Ebene der Sachargumentation wird jetzt vollends verlassen.“

Wem soll man da noch glauben? Wenn man nur die geforderte Kausalität, den direkten Zusammenhang zwischen AKW und Erkrankung nachweisen könnte. „Wir haben weitere Studien beauftragt“, sucht Voigt zu beschwichtigen. „Die werden zu nichts führen, weil sie vorher nicht festgelegt haben, welche Studien-Ergebnisse zu welchen politischen Konsequenzen führen werden“, ätzt Kuni. Sein Kollege Lengfelder hält die Forderung des Atomrechts für unerfüllbar: „Man kann nicht die Mordwaffe aus einem toten Körper herausziehen und sagen, so, das war jetzt die Strahlung.“Es komme vielmehr auf die „Plausibilität“an, die schließlich auch bei der Ursachenzuweisung anderer Krebsarten ausreiche: „Wenn Raucher 40mal häufiger an Lungenkrebs erkranken als Nicht-Raucher, dann bestreitet auch niemand, daß Rauchen Krebs macht.“

Das klingt logisch. Endlich, nach fünfstündiger Debatte. Viele im Saal nicken Lengfelder zustimmend zu. Nur: Das taten sie vorher auch schon.

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