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Die dunkle Seite der Engel

■ „Prison girls“: Knast-Porträts des lettischen Fotografen Andrejs Grants in der Villa Ichon

Jenseits des Gewusels von postmoderner, stilbrüchiger, ideenmixender, selbstreferenzieller, also so oder so gebrochener Kunst gab/gibt/wird es geben das schlichte (! – ? – !) Abbild des Menschen. Jeden Morgen marschiert taz-Redakteur an Balkenhols Mann mit Taube vorbei. Ich stehe, also bin ich, sagt der Holzschnittartige. Soziologische Hintergründe? Psychologische Erklärungsmodelle? Der Mensch ist eine Mensch ist ein Mensch....That's it.

Wenn uns der lettische Fotograf Andrejs Grants in seiner Serie „Prison girls“(1991) bekannt macht mit den 14 - 18jährigen Inhaftierten des Mädchenknasts im lettischen Alsviki, dann erkundet er nicht deren Biotop, zeigt nicht ihren Tagesablauf, nicht die Betten, in denen sie schlafen, nicht die Teller von denen sie essen, beschränkt sich vielmehr auf Augen, Mund, Haltung – und die graue Wand dahinter. Die keck in alle Richtungen springenden girlie-Zöpfchen der Gebändigten, die dem tristen Gefängnis-Alltag wenigstens ein bißchen Paroli bieten wollen? Nein, Grants interessiert sich nicht für Frisuren, Klamotten. Alles Zufall, Tand.

Wie August Sander ist er ein Feind des Schnappschusses, kein Bilderdieb, der seinen Opfern in unbeobachteten Momenten eine flüchtige Empfindung entwendet. Aber auch die erkennungsdiensttauglichen Paßfotos eines Thomas Ruff sind nicht das seine. „Da spüre ich eine Mauer zwischen Fotograf und Porträtierten.“Am liebsten fotografiert er Freunde, zumindest Leute die er kennt. „There is a contact between me and them.“

Viel ist derzeit zu lesen über die prickelnd brutalen Mißstände in Ostgefängnissen. Ist aber nicht Grants Thema. Schließlich haben die Mädels auch einiges auf dem Kerbholz. Eine der Frauen zum Beispiel beteiligte sich an einer Vergewaltigung mit fast tödlichem Ausgang, erzählt Grants, und wirkt dabei eher fasziniert als interessiert. Seine Aufmerksamkeit schenkt er weniger Sozialkritischem als Existenziellem. „It is the paradox, I want to show.“Die jungen Frauen waren „Engel für mich“trotz ihrer „dunklen Seite“, schwärmt der sympathisch steife Mann – und erzählt vom „romantic age“der Teenager, und erst auf Nachfrage vom Haftalltag (Schule, dann vier Stunden Arbeit, nämlich Nähen, dann Fernsehen), vom Abschreckungskonzept der Jugendjustiz in Lettland, von der Zugänglichkeit der Haftanstalt im Umbruchjahr 1991.

Grants Begeisterung über den guten, alten Dualismus im menschlichen Herzen findet eine klare Form in einer anderen Serie. Es sind Doppelporträts. Da zeigt er Bekannte mit offenen Augen und eine Sekunde nach der Aufforderung, doch bitte mal die Augen zu schließen, denn: „The first moment is the most essential one.“Also doch diese elend sentimentale, heillos falsche und trotzdem so anziehende Idee von der Offenbarung des Substanziellen (???) in der Spontanität, im Unbeobachtetsein. Als sei der Mensch nur da ganz Mensch, wo er sich gehen läßt. Die Schnappschußtheorie eben.

Herr Burwitz, Hausmeister der Villa Ichon, Fotograf, Journalist, „paradox“also wie Grants Frauen, entdeckte den Fotografen übrigens im „Freitag“.

Die Ausstellung bestätigt auf angenehme Weise einen wunderschönen Satz von Herrn Modemann, dem Chef der „Freunde und Förderer der Villa Ichon“: „Große Kunst zeigen meistens die anderen. Wir übernehmen den ganzen Rest.“bk

Villa Ichon, Goetheplatz 4, bis 29.8., Mo-Fr 13-19 Uhr, Sa 11-13 Uhr

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