: Der Boulevard der Dämmerung
■ Grausam oder gesund: Das West Port-Festival eröffnete mit Nina Simone und Van Morrison
s war noch nicht „in the midnight hour“,als Van The Man Morrison am Samstag abend im total ausverkauften West-Port-Zelt gleich mit einem Vollgas-Soul-Start loslegte, der den Anwesenden die Gänsehaut-Schauer über die Arme rieseln ließ. Das „Oh, Domino“-Spiel konnte beginnen, der Stein des Anstoßes geriet ins Rollen, und nach acht Jahren Hamburg-Abstinenz geriet die Menge in verzückte Begeisterung.
Der 51jährige bewies einmal mehr, warum seine Musik nach drei Jahrzehnten nichts an Einfühlung, Poesie, Seele, Rhythmus und Härte an der richtigen Stelle verloren hat. Seine hervorragende sieben-köpfige Band provozierte das kompakte irische Soul- und Blues Vollblut mit Unterstützung der Saxophon-Shouts von Pee Wee Ellis und dem Piano- und Orgel-Swing von Georgie Fame in nahezu metaphysische Höhen. Das Jazz-Zelt als Rhythmus-Kathedrale, der Sänger als Priester, The Healing Game eines irischen Druiden: „Some times we give, sometimes we won't, sometimes we laugh, sometimes we cry ...“Der Cry of Love: How long has this been going on?“Jede Nacht lang, signalisierten die Freudenschreie aus der mitwippenden Menge und feuerten den als ewigen Grantler verschriehenen Barden dazu an, sich kreuz und quer durch sein herausragendes Repertoire zu singen, zu schreien, zu flüstern und zu kreischen.
Als seine Blues-Gnaden John Lee Hooker verkündete, er halte Mister Morrison für den größten weißen Blues-Musiker, weil er seine Songs mit Herzblut schreibt, hatte er eines vergessen. Denn dies gilt auch für Morrisons einmalige Rock'n' Soul und Gospel-Jazz Mixtur: ein hochprozentiges Arzneimittel mit positiven Nebenwirkungen. Die Gefahr bei Morrison besteht nur darin, süchtig zu werden. Aber das ist gute irische Tradition, denn die Realität ist sowieso nur eine Illusion, die entsteht, wenn man zuwenig getrunken hat. Zur Überraschung von Publikum und Band preßte der Meister des genuschelten Liedgutes dann seine Hommage an Otis Redding heraus: I've been loving you too long ... .“
Wie es dazu kommen kann? Vermutlich durch eine einmalige Kombination aus sensibler Wahrnehmung, Leidensfähigkeit, musikalischer Intuition, einem großen Herzen und der spirituellen Gabe, dafür auch noch die angemessenen, einfachen Worte und Töne zu bilden. Wie das aussieht? Viel zu enges, schwarzes Jacket über blauem Hemd, einen tief ins Gesicht gezogenen Strohhut, eine Sonnenbrille und eine kleine im Bühnenlicht reflektierende Mundharmonika – ein kleines Zeichen nach außen für das im Inneren erstrahlende Licht. Und diese Blues-Harp spielte der Magier an diesem Abend so brillant, diffizil und blue(s)-notig wie selten zuvor.
Als sich nach einer Stunde und 35 Minuten die Sonne über den oxydierten Dächern der Speicherstadt ins Hafenbecken ergoß, waren sich alle Verschwitzten und Geheilten einig: „Nur vom Feinsten – aus der Zauberkiste.“Komm' bald wieder, laß uns leiden und sing uns dann wieder gesund. The Healing Game.
Gunnar F. Gerlach
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