: Lohndumping kommt in Mode
■ Während die Bezahlung früher von Jahr zu Jahr zunahm, sinkt sie heute für viele Beschäftigte. Trotzdem steigen die Durchschnittslöhne langsam weiter an
Bei der Commerzbank gibt es seit Beginn des Jahres vier Klassen von Menschen. Wer von den Vorgesetzten als „Grenzleister“ eingestuft wird, erfüllt seine Aufgaben angeblich nur unterdurchschnittlich. „Basisleister“ liegen so eben im Schnitt, „Volleister“ arbeiten besser als normal, und die „Topleister“ sind richtig Spitze. Das System der „erfolgs- und leistungsorientierten Vergütung“ führt zur „Polarisierung des Lohngefüges“, wie Gesamtbetriebsrat Wolfgang Schmelz berichtet: Manche MitarbeiterInnen bekommen weniger als früher, manche aber viel mehr.
Bis Ende 1996 zahlte die Bank bestimmte freiwillige Sozialleistungen und Zulagen an alle Beschäftigten gleichmäßig aus. Nachdem der Gesamtbetriebsrat der Neuregelung zugestimmt hat, fließen 1997 Zulagen in Höhe von acht Millionen in einen gemeinsamen Topf, den die Bankchefs nur an die Voll- und Topleister unter ihren rund 17.000 Beschäftigten verteilen. Zwei Drittel der Belegschaft gehen leer aus.
Und der Vorstand der Commerzbank plant bereits die nächste Attacke. Einen bisher freiwillig gezahlten Teil des Weihnachtsgeldes will man ebenfalls in den großen Topf stecken.
Kein Einzelfall: Josef Hoormann vom Deutschen Gewerkschaftsbund Berlin-Brandenburg erkennt, daß der „Druck auf die Einkommensstruktur zunimmt“. Während die Nominallöhne, die den Beschäftigten laut Tarif- und Arbeitsverträgen zustehen, im Zeichen des Wachstums bis zum Beginn der 90er Jahre fast immer stiegen, sinken sie jetzt teilweise.
So gaben die Gewerkschaften IG Metall und IG Chemie der Unternehmerforderung nach, daß Betriebe den Lohn vorübergehend um zehn Prozent reduzieren können, wenn sie wirtschaftlich mit dem Rücken an der Wand stehen. Daß die Erosion des Tarifgefüges jetzt stattfindet, liegt an der hohen Arbeitslosigkeit. Bei einem Überangebot von Arbeitskräften können die Unternehmer den Preis der Ware Arbeitskraft drücken.
In den modernen Branchen der Computerindustrie und Telekommunikation wird häufig erst gar kein Tariflohn gezahlt, weil die Gewerkschaften keinen Fuß in die Türe bekommen. Ebenso wie die Beschäftigten der Metall- und Chemiebranche verdienen die InformationsarbeiterInnen zwar oft nicht schlecht – aber immer noch weniger, als es Tarifabschlüsse vergleichbarer Branchen vorsehen.
Auch die Bundesregierung tut kräftig mit beim Lohndumping. Das neue Arbeitsförderungsreformgesetz legt das Gehalt für ABM-Beschäftigte auf 50 bis 75 Prozent des Normallohns fest. Früher war der Abstand geringer. Die konservative Wirtschaftstheorie besagt, daß Unternehmen dann Leute einstellen und folglich die Arbeitslosigkeit reduzieren, wenn die Kosten der Arbeit vermindert werden.
Diese Beispiele beschreiben allerdings nur eine Tendenz, die sich bei anhaltend schlechter Konjunktur im Inland in Zukunft vielleicht zur dominanten Entwicklung verstärkt. Gegenwärtig aber sieht die Lage im großen und ganzen noch freundlicher aus: Jahr für Jahr steigen die durchschnittlichen Nominallöhne der Beschäftigten an. Wie in den Zeiten des Wirtschaftswunders zeigt die Kurve nach oben – mit einigen Einschränkungen. So sanken zu Beginn der 90er Jahre die Gehälter der Berliner Bevölkerung flächendeckend, weil die spezielle Subventionierung durch die Bundesregierung abgeschafft wurde. Und die Kaufkraft der Durchschnittslöhne nimmt ebenfalls ab, da die Steigerung geringer ausfällt als die Geldentwertung im Zuge der Inflation.
Das Gesamtbild muß unvollständig bleiben, weil über die inoffiziellen, von keiner Tarifregelung erfaßten Arbeitsmärkte kaum gesicherte Erkenntnisse vorliegen. Die Zahl der dort Beschäftigten nimmt zu. Heute geht sie bereits in die Millionen. AushilfsverkäuferInnen in Videotheken arbeiten bereits wieder für acht Mark pro Stunde, während jahrelang zehn Mark als Untergrenze akzeptabler Bezahlung galten. Und ein Mitarbeiter der studentischen Arbeitsvermittlung Tusma weiß, daß Betriebe immer häufiger Jobs anbieten, die unter dem Tusma-Minimum von 13,50 Mark liegen. Noch lehnen die Studentenvermittler in solchen Fällen ab. Hannes Koch
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