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Neuer Gigant aus dem Osten

Nachdem Jan Ullrich gestern die Pyrenäen im gelben Trikot verließ, gilt der Chef des Team Telekom als absoluter Favorit der 84. Tour de France  ■ Von Matti Lieske

Berlin (taz) – „Nach fast acht Stunden in der Hitze der Pyrenäen hat Ullrich die Tour entschieden“, schrieb die spanische Zeitung El Pais, einen Tag, nachdem der gebürtige Rostocker Jan Ullrich am Dienstag mit seinem dynamischen Parforceritt hinauf nach Andorra das gelbe Trikot der 84. Tour de France ergattert hatte. Gestern verteidigte Ullrich seine Spitzenposition auf der 11. Etappe nach Perpignan, die im Sprint einer Dreiergruppe vom Franzosen Laurent Desbiens gewonnen wurde. Am heutigen Ruhetag kann Ullrich neue Kräfte für das schwere Bergzeitfahren in St. Etienne schöpfen, bei dem er morgen seinen Vorsprung vor dem Franzosen Virenque (2:58 Min.) und dem Spanier Olano (4:48) nach allgemeiner Erwartung weiter ausbauen dürfte.

„Das ist keine Überraschung“, kommentierte der amerikanische Radprofi Lance Armstrong Ullrichs Vorstoß an die Spitze, „er kann noch oft die Tour gewinnen.“ Und El Pais konstaierte leicht resigniert: „Wie in den Zeiten von Induráin entbrennt der heftigste Kampf um den zweiten Platz.“ Tatsächlich hat Ullrich eine Menge gemein mit dem fünffachen Toursieger aus Spanien: den so leicht und unbeschwert erscheinenden Tritt an den steilsten Steigungen, die Vorliebe für heiße Temperaturen, die für die Tour ideale Kombination von Stärke am Berg und Klasse beim Zeitfahren sowie die Neigung zu lakonischen Bemerkungen. Die Journalistenschaft ist nicht zu beneiden, nach dem Schweiger von Navarra hat sie fortan den Sprachlosen aus Mecklenburg-Vorpommern am Hals. „Als ich beschleunigte, konnten mir nur wenige folgen, dann noch weniger, und am Schluß war ich allein“, analysierte Ullrich seinen Sieg auf der 10. Etappe.

Abgehängt wurde auch Teamkollege Bjarne Riis, der eigentlich dazu ausersehen war, in diesem Jahr noch einmal die Tour für Team Telekom zu gewinnen. Ullrich sollte dabei als treuer Diener die nötigen Erfahrungen sammeln, um im nächsten Jahr zuschlagen zu können. Aber schon auf der ersten Pyrenäenetappe am Montag wurde klar, daß Ullrich stärker ist als Riis, und ein Festhalten an dem Dänen bedeuten könnte, daß Telekom die Tour verliert. Genauso erging es Banesto 1990, als Induráin, obwohl schon viel besser, an der Seite von Pedro Delgado bleiben mußte, bis es zu spät war. Damals gewann der durchaus nicht überragende Greg LeMond dank verfehlter Banesto-Taktik noch einmal die Tour, während das spanische Team leer ausging.

Telekom-Direktor Walter Godefroot beging einen solchen Irrtum nicht. Auf dem vorletzten Anstieg zum Envalira schaute er sich die Fahrer an, die am Hinterrad von Ullrich den Berg hinaufkeuchten, und machte eine bemerkenswerte Entdeckung: „Ich sah, daß die Mehrheit mit Schwierigkeiten kletterte.“ Kurzerhand beendete er seinen inneren Kämpfe und gab Ullrich, den er tags zuvor noch gebremst hatte, grünes Licht: „Am letzten Paß kannst du dein Rennen fahren, egal, was mit Riis oder sonst irgendwem passiert.“ Die Ablösung war endgültig vollzogen, Riis fiel drei Minuten zurück, wahrte in der für ihn bitteren Stunde aber sein Gesicht, wie es die Benimmregeln im Profiradsport verlangen. „Was Ullrich getan hat, ist wunderbar, phantastisch, ich werde bis zum Letzten für ihn arbeiten“, sagte der 33jährige Däne. „Der Machtwechsel war eine simple Frage der Kräfte“, erklärte Banesto-Direktor Eusébio Unzue, „der Stärkere ist davongefahren.“

Schon im letzten Jahr war Riis lediglich als Platzhalter betrachtet worden, den größeren Eindruck hatte bereits damals Jan Ullrich gemacht, der den großen, aber schwächelnden Induráin sogar im Zeitfahren bezwang und am Ende auf Platz zwei kam. Mit 23 Jahren hat er nun die riesige Chance, seine erste Tour zu gewinnen, im selben Alter wie die großen Fahrer Jacques Anquetil, Bernard Hinault oder Laurent Fignon. Gleichzeitig kann er zum ersten Radsportler aus der alten DDR-Schule werden, der auch bei den Profis ganz nach oben kommt.

Die erste Generation aus den Kaderschmieden östlich der Elbe hatte nach der Wende, ähnlich wie die Talente aus den anderen östlichen Staaten, noch mit großen Anpassungsproblemen zu kämpfen. Lediglich Olaf Ludwig feierte als Sprinter Triumphe, während ein für die großen Rundfahrten prädestinierter Fahrer wie Uwe Ampler mit den Hierarchien und der strikten Disziplin in den Profi-Mannschaften nicht zurechtkam. Ullrich, der mit neun Jahren sein erstes Rennen bestritt, paßte sich perfekt an, tat bis zuletzt keinen Pedaltritt ohne Genehmigung seines Chefs, lernte aber gleichzeitig schnell, sein Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. „Er hatte noch die Mentalität des Ostens“, sagt Walter Godefroot über die Anfänge seines neuen Kapitäns beim Telekom-Team, „das heißt, ihm fehlte die Initiative.“

Diese Fähigkeit hat „der neue Gigant“ (L'Équipe) inzwischen erworben, wie er in den Pyrenäen bewies, dennoch bleibt er zurückhaltend. Mögen alle davon reden, daß ihm der Sieg, auch mangels kompetenter Konkurrenz, nicht mehr zu nehmen sei, Ullrich weiß, daß auf den letzten zehn Etappen noch eine Menge passieren kann. „Paris ist weit“, erklärte er vorsichtig, „an den Sieg denke ich noch nicht.“ Miguel Induráin hätte es nicht dezenter sagen können.

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