■ Querspalte: Die Oder rettet Kohl
Früher hätte er mal kommen sollen. Da hätte man ihm was erzählt. Wie schön es war in Hüttenstadt, zu Honeckers Zeiten. Bezahlbare Wohnungen. Gepflegte Rasen vor den Wohnkomplexen. Ein anständiges Textilwarenhaus. Keine Jugendlichen, die frustriert auf der Straße abhängen. Keine qualifizierten Leute, die auf wackligen Wohngebietsbänken lethargisch in den Tag hinein dösen. „An jedem anderen Tag wäre hier was los gewesen“, meint ein Vorruheständler, der sich als abgewickelter Eko-Arbeiter bezeichnet und jetzt tagelang seinen Frust in die grün gestrichene Wohngebietsbank drückt. Aber heute, da Fürstenberg, die Altstadt von Eisenhüttenstadt, unter Wasser steht, die Betroffenen nicht wissen, wohin sie aufs Klo gehen sollen und ob sie morgen noch Strom haben, ausgerechnet heute kommt der Kanzler in die Stadt. „Kohl hat einfach Glück gehabt.“
Kein Satz ohne „früher“ an diesem Mittwoch in Eisenhüttenstadt. Nirgendwo sonst in Ostdeutschland als hier, in dieser „ersten sozialistischen Stadt Deutschlands“ (1950 von Ulbricht in den märkischen Sand gesetzt), klebt das Wort „früher“ so nostalgisch zwischen den verfallenen Wohnkomplexen. Nirgendwo sonst als hier, „in der Stadt ohne Vergangenheit“, hat sich der Nachwendefrust so felsenfest manifestiert. Nirgendwo sonst als hier ist Kohl als Lügner und Sprücheklopfer verschrien. Immer wieder werden seine „blühenden Landschaften“ zitiert, ist zu hören: „12.000 Leute waren mal im Eisenhüttenkombinat Ost beschäftigt, 2.500 sind es heute noch.“ Und nirgendwo sonst als hier wäre ihm an jedem anderen Tag so richtig der Marsch geblasen worden. Nur eben heute nicht. Heute hat Hüttenstadt Hochwassersorgen.
Kohl also kann sich an diesem Mittwoch gelassen durch das Eko-Werk walzen. Per Knopfdruck die neue Warmwalzanlage einweihen. Nur der Applaus ist verhalten. Nur ein Eko-Arbeiter sagt vorsichtig: „Der Bundeskanzler ist bei uns nicht so beliebt.“ Und nur eines ist gewiß: Kohl war zur richtigen Zeit am traurigsten Ort. Jens Rübsam
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