: „Warum sind Sie so still?“
Der Tod des 14jährigen Silvio Z. in der Sophienstraße: Wie aus einer Meldung der Polizei und einer Vermutung von Anwohnern eine Stricher-Geschichte wird ■ Von Jens Rübsam
Am Donnerstag eine kleine Meldung der Polizei: „Beim Herumtoben stürzte ein 14jähriger aus Lichtenberg vom Dach eines Hauses in der Sophienstraße. Trotz sofortiger Wiederbelebungsversuche starb der Schüler noch am Unglücksort. Der Jugendliche hatte mit zwei Freunden auf dem Flachdach des fünfgeschossigen Hauses mit einem Wasserschlauch und einem aufblasbaren Planschbecken gespielt. Hinweise für Fremdverschulden liegen nicht vor.“
Gestern ein Bericht in der Morgenpost mit der Überschrift: „Mysteriöser Tod: Warum starb Silvio Z.?“. Der Hauswart wird zitiert: „In dem Unglückshaus kann man nicht aufs Dach steigen.“ Eine Mieterin kommt zu Wort: „Oben wohnt ein junger Mann, über den wir uns schon lange ärgern. Ständig holt er Kinder in seine Wohnung.“ Die Morgenpost schreibt, was ihr Mieter erzählt haben: Das oberste Flurfenster habe offengestanden. Zwischen den Zeilen ist die Vermutung herauszulesen: Silvio ist nicht vom Dach, sondern aus dem Fenster gestürzt. Silvios Mutter untermauert dies: „Ich bin sicher, daß Silvio nicht beim Spielen vom Dach gestürzt ist.“ Im Text heißt es: „In der Stricher-Szene am Bahnhof Zoo gilt der Mann als Stammkunde.“ Der Beschuldigte wird zitiert: „Silvio war einer von meinen Jungs.“ Es darf spekuliert werden.
Sophienstraße 23, Hinterhof, gestern Mittag. Zwei Anwohnerinnen unterhalten sich über den Fall. Ja, gegen den Mieter aus dem fünften Stock habe man kleine Aversionen. Jungen habe er ständig mit ins Haus gebracht, nicht älter als fünfzehn. Adrett hätten sie ausgesehen. Eine Mieterin aus dem vierten Stock, so erzählt man sich, sei wegen André V. ausgezogen. Der Grund: „unangenehme Geräusche“ aus dem darüberliegenden Stock. Genaueres wisse man nicht.
Im Hinterhof warten zwei Männer von Berlins größter Boulevardzeitung. André V., Mitte 20, geföntes Haar, kommt nach Hause. Er hat einen Jungen dabei, nicht älter als fünfzehn. Dieser trägt eine schwarze Turnhose mit breiten, weißen Streifen und weiße Turnschuhe. Berlins größte Boulevardzeitung ist nicht zu halten. „Ich will ihnen die Chance geben, sich zu äußern“, sagt der Journalist. Und legt los. Erzählt von einem so eben geführten Gespräch mit Silvios Mutter. „Die Mutter erhebt schwere Vorwürfe gegen Sie. Sie hätten ihm Geld gegeben, viel Geld, Geschenke gemacht.“ André V. sagt fast nichts. Der Mann von Berlins größter Boulevardzeitung hastet weiter, von Frage zu Frage: „Was waren Sie für Silvio, Freund oder Vater oder alles in einem? Warum haben Sie ihm soviel Geld geschenkt? Ist es richtig, daß Sie aufgrund ihrer Vergangenheit viele Jungs kennen? Haben Sie es genossen, daß Silvio bei Ihnen war? War es vielleicht so, als ob ein Weihnachtsbaum im Zimmer stand? Hat er mit Ihnen auch mal so gesprochen: Ich bin geil! Kann es sein, daß er sexuelle Schwierigkeiten hatte? Wollte er Ratschläge von Ihnen? Ich kenne das ja. Ich habe auch einen Neffen. Was glauben Sie, was möchte man Ihnen unterstellen? Sie werden hier angegriffen und können wahrscheinlich nichts dazu!“ Der Fotograf von Berlins größter Boulevardzeitung fragt, ob er das Haus mal fotografieren darf. Er legt an, hält die Kamera nach oben zum fünften Stock, drückt ab – die Kamera ist unten, da, wo das Gesicht von André V. zu haben ist. „Warum sind Sie so still?“ fragt der Reporter weiter, „da wird ein Mülleimer über Ihnen ausgeschüttet, und Sie ertragen es?“ Dann sagt er: „Danke, daß sie die Kraft hatten, mit uns zu sprechen.“ Und will noch zwei Fragen beantwortet haben: „Konnten Sie zu Silvio noch ein Wort sagen, als er da auf dem Boden lag? Konnten Sie ihm noch in die Augen sehen?“ Andrè V. läßt sich schließlich doch noch fotografieren, ganz offiziell. Ein Polizeisprecher sagte gestern: „Es gibt einen Zugang zum Dach des Hauses.“ Es werde weiter ermittelt.
Welche Geschichte wird heute in Berlins größter Boulevardzeitung zu lesen sein?
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